Auf den Großen Preis von Cannes folgte der Golden Globe – und nun auch tatsächlich der Oscar für den besten nicht-englischsprachigen Film: ‘Son of Saul‘ ist jede Sekunde sehenswert und packend. Ein Vergnügen ist er nicht. Im Gegenteil. Revolutionär ist er, in vielerlei Hinsicht, sogar in seinen Rückschritten. Seine bislang 43 Preise hat er zu Recht gewonnen. Doch niemand käme auf die Idee, über ihn ins Schwärmen zu geraten. Denn ‘Son of Saul’ spielt 1944 in Auschwitz-Birkenau, dem entsetzlichsten Schauplatz der deutschen Geschichte, und macht seine Zuschauer zu Beteiligten.
Dem 38-jährigen Ungar László Nemes ist es mit seinem Regie-Debüt (!) gelungen, die üppige Filmliteratur zum Holocaust um einen neuen Typus zu erweitern. Stets ging es bei der Shoah um die Frage, ob und wie man das Unzeigbare zeigen kann. Und was macht Nemes? Er stellt seinen Helden mitten ins Vernichtungslager Birkenau, in die Gaskammern und Verbrennungsöfen, und – schaut weg. Er blendet sie aus. Wie das? Mit einem einfachen, aber verblüffenden Trick, den er jahrelang in Kurzfilmen übte: Seine Kamera hat keinerlei Schärfentiefe, nahezu jede Szene findet vor einem unscharfen Hintergrund statt. Dazu lärmt eine Geräuschkulisse an der Grenze zur Unerträglichkeit. Nemes verwehrt den direkten Blick auf das Grauen. Statt dessen nährt er die Vorstellungskraft des Zuschauers, und zwar aufs Ungeheuerlichste. Doch der Reihe nach.
Saul ist ungarischer Jude und Teil eines Sondereinsatzkommandos. Bedeutet: Zwangsarbeit. Sein Alltag besteht darin, Dutzende Juden in „Duschen“ zu geleiten und ihnen beim Entkleiden zu helfen. Schließen sich die Türen zu den Duschkammern, entnimmt er den Kleidern sämtliche Wertsachen. Während er sie sortiert, strömt Blausäuregas in die Kammern. Todesschreie gellen aus dem Hintergrund, man hört Sterbende gegen Türen schlagen. Ist der Krach vorbei, muss das Kommando aufräumen: die Leichen hinausschaffen, in Aufzüge stapeln, in die Öfen werfen. Bis in wenigen Minuten die nächste Todesgruppe kommt, werden die Böden geschrubbt. Es herrscht Hektik, jeder führt die Befehle der Capos (vorgesetzte Zwangsarbeiter) und der Offiziere aus, in schierer Hetze, denn wer nicht spurt, wird erschossen. Das Gebrüll und Gemurmel untereinander und die hallenden Stahlklänge der Tötungsmaschinerie sind kaum auszuhalten. Diese „Arbeit“ als blanken Horror zu bezeichnen, ist noch enorm untertrieben. Dazu die Gewissheit: Spätestens nach ein paar Monaten wird Saul selbst in die Gaskammer gehen müssen – wenn nicht ein Wunder geschieht.
In Nemes’ Film geschieht kein Wunder. Die Arbeiter scheinen eine Flucht zu planen, doch Saul macht plötzlich eine Entdeckung, die ihn aus der Bahn wirft und den Plan gefährdet … Was immer die Geschichte bereithält (sie soll hier nicht verraten werden), Hoffnung kommt zu keinem Zeitpunkt auf, alles Gewese verkümmert zu einer aufreibenden, aussichtslosen Nebensache. Daran sind die Bilder schuld. Sie zeigen kaum etwas, obwohl sich nur eine Armlänge entfernt das größte Greuel des 20. Jahrhunderts vollzieht. Die Kamera degradiert das Geschehen zur Beiläufigkeit, zur Banalität. Sie schaut nicht auf das, was da vor sich geht. Sie macht es den Protagonisten gleich: nicht hinschauen, bloß schnell erledigen – der Naziwahn vom industriellen Morden vollendet sich in rauschhaftem Automatismus. Auch Saul (grandios: Géza Röhrig) hält das Grauen von sich fern, blendet es aus. Wie die Kamera: Sie ist neben dem Ton die verstörendste Konstante in diesem Film. Unablässig kreist sie um Saul und kennt nur zwei Perspektiven – den Blick auf ihn und den Blick, den er selbst auf seine Umgebung hat. Beide Perspektiven sind kurzsichtig, denn alles, was weiter als einen halben Meter entfernt ist, verschwimmt: seine Kollegen, die Leichenberge, das Demütigen und Morden der Wehrmachtssoldaten…Das Filmplakat zeigt diese Bildsprache sehr genau – sie zieht sich fast durch den gesamten Film. Die Beklemmungen, in die der Zuschauer dabei gerät, sind ein Vielfaches heftiger als in jedem Horror-Movie. (Gestützt durch das Wissen: all das, was im Hintergrund abläuft, ist wirklich passiert!)
Dem jungen Regisseur war das noch nicht genug. Er drehte auf Zelluloid, was den Bildern eine zusätzliche Lebendigkeit gibt; dazu noch im kastigen 4:3-Format, was eine noch bedrückendere Enge erzeugt. Der Geniestreich ist aber das Sound-Design, an dem Nemes vier Monate arbeitete. Was sich zunächst wie ein Tonfehler mit übersteuerten Klangquellen anhört, ist in Wirklichkeit bis ins letzte Dezibel gewollt. Der ganze Horror von Birkenau dringt über den Hörnerv direkt ins Gehirn. Und obwohl das 107 Minuten lange Drama mit nur 90 Schnitten auskommt (moderne Blockbuster haben 2000 bis 3000 Schnitte, um Tempo und Spannung zu erzeugen), hat er die Atemlosigkeit eines Top-Thrillers. Es gibt keinen erzählerischen Holocaust-Film, der seine Zuschauer mit größerer Wucht trifft als ‘Son of Saul’.
Die Vorgänge in dem Vernichtungslager, wie sie Nemes abbildet, gelten historisch als gesichert; dass er die Geschichte von Saul hinzuerfunden hat (und damit den Thriller-Effekt verstärkt), hat ihm besonders die deutsche Kritik übelgenommen. Nemes wollte den Film 2015 im Wettbewerb der Berlinale zeigen – wo man ihn ablehnte. Auch einen deutschen Verleih fand „Son of Saul“ erst spät, und der ließ noch auf der Pressevorführung vor wenigen Wochen ein gewisses Unbehagen spüren. All die Zurückhaltung erstaunte Nemes, bewundert er doch, wie offen die Deutschen sich sonst ihrer antisemitischen Geschichte stellen (im Gegensatz zu seiner Heimat Ungarn). Letztlich ist es wohl die hiesige Sorgfalt, die auf fiktive Thriller-Elemente in diesem nationalen Wundmal ebenso hochsensibel reagiert wie auf Nemes’ Anspruch, sich betont virtuos daran abzuarbeiten; manche warfen ihm Zurschaustellung seines technischen Könnens vor.
So musste er den Umweg übers Ausland nehmen. Und da sprachen die A-Festivals eine einheitliche Sprache: ‘Son of Saul’ ist ein Meisterwerk. Hoffnung auf einen Besucheransturm darf er sich dennoch keine machen. Von diesem Film werden sich die meisten Zuschauer frühestens am nächsten Tag erholen – da will der Kinobesuch gut abgewogen sein. Er ist in gewisser Weise der Gegenentwurf zu Spielbergs ‘Schindlers Liste‘: Statt wohliger Depressionsschauer und eines kleinen Trosts im Angesicht der Unmenschlichkeit schiebt ‘Son of Saul’ seine Zuschauer direkt vor die Gaskammern und Öfen von Birkenau – und lässt ihn dort mit sich und Saul allein.
Wer sollte diesen Film also sehen? Jeder, der sich gerne von der Kunst des Filmemachens beeindrucken lässt. Jeder, der sich traut, eine filmische Grenzerfahrung zu machen. Und jeder, der noch mal daran erinnert werden muss, in welche Hölle Fremdenhass führen kann, wenn er in einen kollektiven Wahn taumelt. Wie viele bejubelte Brandstiftungen gab es doch gleich in den letzten Monaten? Zwischen der Kristallnacht und Birkenau lagen weniger als drei Jahre. Just sayin’.
Son of Saul (UNG 2015)
Regie: László Nemes
Darsteller: Géza Röhrig, Levente Molnár, Urs Rechn, Todd Charmont, Sándor Zsótér, Marcin Czarnik, Jerzy Walczak, Uwe Lauer, Christian Harting
Kino-Start: 10. März 2016, Sony Pictures