HOLLY HERNDON – PROTO


Foto-© Boris Camaca

Physical love
Are you right in front of my eyes?
Love, love, love
How is it possible?
I’m feeling the way now
Right in front of my eyes
I’ll love you ’til you belong
Baby, I’m right here
Every night, lie
You hold on
Baby, take all this mess
You have the sun in your eyes
Oh, oh, oh, you

(Holly Herndon – Eternal)

Was passiert wenn eine junge Musikerin aus den Bergen von East Tennesse ein Austauschprogramm in Berlin macht? Sie kehrt entweder geschockt in die Staaten zurück und verschreibt sich dem Country oder sie wird zu…Holly Herndon. Dürfen wir vorstellen: Holly, ein Ausnahmetalent, die höchstwahrscheinlich hochsensibel den Spirit einer Stadt gespürt und aufgesogen hat und nun ihre Energie daraus zieht – für bahnbrechende Musik und, mal eben so, in einen Doktortitel der Philosophie an der Stanford University (ihr wisst schon, diese Universität, die immer in den Hollywood-Schinken gennant wird, wenn man zeigen will, dass eine Figur was auf dem Kasten hat)!

Doch von vorne: Holly Herndon, Jahrgang 1980, macht als junge Frau ein Austauschprogramm in Berlin und verliert sich sofort in der Techno-Szene der Stadt. Sie tritt in Clubs auf und findet ihre kulturelle Heimat. Zurück in den Staaten bringt sie diese Erfahrung an das kulturwissenschaftliche Mills College in Oakland, California. Dort entdeckt sie den Laptop als „the most intimate instrument“. Sie entwickelt im Rahmen ihres Studiums Live-Voice-Processings-Systeme und ihren eigenen Stil, der vor Experimentierfreude platzt. Die Folge: Ihr Debütalbum Movement (2012), für welches sie die Programmiersprache Max/MSP einsetzt, um eigene Instrumente und Stimmen zu erschaffen. Pitchfork lobt die gelungene Vereinigung von akademischer Experimentierfreude und erfahrener Clubpräsenz, die den Laptop als Instrument etabliert. Nach ihrem Debüt folgen die Chorus EP (2014) und Platform (2015). Letzteres erreicht größere Aufmerksamkeit und führt sie zu Radiohead, mit denen sie als Support durch Europa tourt. Platform hat dabei einen wissenschafltichen Hintergrund: Sie setzt sich musikalisch mit ihrem Doktorthema, der sog. Plattform-Politik auseinander und verleiht diesem so einen Soundtrack, dessen unglaubliche Komplexität seiner akademischen Thematik gerecht wird.

Doch kommen wir ins Jahr 2019: PROTO heißt Hollys neustes Werk, in welchem sie noch einen drauf setzt: PROTO ist nicht nur ein komplexer Soundtrack für ein komplexes Thema, PROTO hat eine neue Ebene der Experimentiertfreude erreicht. Durch die Ohrmuscheln schallt ein modernes Orchesteralbum, welches Chorgesangsformen der amerikanischen Südstaaten in ein digitales Universum entführt und mit einer neuen Spezies vertraut macht: Spawn, eine sogenannte Baby AI, künstliche Intelligenz. Holly Herndon hat sie selbst zur Welt gebracht und zwei Jahre trainiert, um sie mit echten Menschen ins Studio zu schicken. Welche Einlagen von Spawn oder von organischen Stimmbändern stammen, lässt sich nicht heraushören und das fasziniert. PROTO ist oft außergewöhnlich, ergo außergewöhnlich gruselig. Angefangen beim Artwork, auf welchem uns kranke und in sterile Gelmasse gehüllte Augenränder anstarren und die Grenze zwischen Mensch und Plastik aufgehoben wird. Schaut man da auf Holly oder auf Spawn oder auf beide? Singt da gerade Holly oder Spawn oder singen beide? Es gibt keine klaren Anworten, es raunt Mensch und Maschine durch ein epochales Werk, in welchem die Philosophien den Hörer zur Fragen treibt: Wie viel Mensch braucht die Musik? Wie viel Musik braucht die Technologie? Kann Technik mit ein paar Befehlen selbst Musik machen? Ist Musik Technik? (Irgendwie schon: Wiederholung, Mathematik.) Wird der Mensch überflüssig? Das Album zeigt: Selbst ganze Orchester könnte man programmieren! Kann ein Zufallsgenerator menschliche Genialität übertreffen? Spawn anscheinend schon.

Holly Herndon gelingt etwas Außergewöhnliches: Sie zwingt uns zu philosophischen Fragen und bleibt dabei zwischen elektronischer Extase und Avantgarde-Pop. Ihre Arbeitsweise und virtuose Umsetzung macht dieses Werk zu einem Meilenstein.

Holly Herndon – PROTO
VÖ: 10. Mai 2019, 4AD
www.hollyherndon.com
www.facebook.com/hollyherndonmusic


Dennis Möller

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