Fotos vom Schwesterfestival Hurricane von Sebastian Madej
In diesem Jahr wurde eines der größten Festivals Deutschlands 20 – das feierten ca. 60.000 BesucherInnen und fast 100 Acts an vier Tagen. 1999 als Schwesternfestival zum Hurricane entwickelt, ist das Southside aus den Festivalplanern nicht mehr wegzudenken und hat am vergangenen Wochenende alles geboten, was besorgte Eltern zu Hause fürchten – inklusive Unwetter. Aber dazu später mehr.
Das Southside genießt bei seinen Fans Kultstatus. Die Festivalshirts der vergangenen Jahre werden getragen wie Trophäen: je länger her, desto besser. Man tauscht sich aus über vollständige und unvollständige Sammlungen der Motivbecher, in der Bierschlange wird über die Veränderungen zu den vorherigen Jahren gefachsimpelt – besseres Essen, bessere Sanitäranlagen, schlechtere Waschbecken, weniger Schlamm, mehr Schlamm – und einige erinnern sich, dass das Bier mal 3,50 € gekostet haben soll. Ich glaube, das ist lange her.
Das Southside hat eine ALDI-Filiale, die einen nicht nur mit einer riesigen Backtheke, sondern auch mit kalten Getränken und der Camping-Grundausstattung versorgt. Für die hygienische und ästhetische Bedürfnisbefriedigung sorgt der festivaleigene Rossmann. Es gibt Henna-Tattoos, billige Sonnenbrillen, teure Regencapes, ein Zelt für den Merch der Bands, ein Zelt für den Merch des Festivals, das Essensangebot macht jedem Berliner Street-Food-Market Konkurrenz. Alles funktioniert, es gibt wenig Wartezeiten, das Personal und die Security sind freundlich und professionell, die Logistik ist durchdacht und effektiv wie die Fußgängerzone einer musikalischen Kleinstadt in Feierlaune. Wäre da nicht das Gefühl, dass man aus eben solchen schon kennt: Irgendwie sieht alles gleich aus, überall stehen große Namen, alles blinkt, irgendwo gibt es immer einen Sonnenhut eines bekannten Energy-Drink-Herstellers, aber irgendwas fehlt. Kunstprojekte, versteckte Winkel, ein Rahmenprogramm, bei dem sich nicht tausende Menschen versammeln: Was man von anderen Festivals wie dem Dockville, A Summer’s Tale oder dem Maifeld Derby kennt, findet hier keinen Platz. Da hilft auch der morgendliche Poetry-Slam abseits des Festivalgeländes nichts – vielleicht wäre das bei den Menschenmassen auch gar nicht machbar. Beim Großen geht das Kleine verloren. Aber was soll‘s: Wenn der meterhohe Jägermeister-Hirsch vorm baden-württembergischen Bilderbuchsonnenuntergang Feuer aus dem Geweih bläst, ist das ein Moment, der sich nicht nur im Instagram-Profil der BesucherInnen macht, sondern tatsächlich in Erinnerung bleibt.
Apropos Erinnerungen: Auch die Bands teilen ihre Beziehung zu dem Festival, das im deutschsprachigen Raum wahrscheinlich jede*r kennt. Campino (Die Toten Hosen) beschwert sich, dass sie 2019 das erste Mal seit 18 Jahren spielen durften und versichert, dass die Show gerade deshalb ein Kracher werden wird. Inklusive effektvoller Technik, die roten Rauch über das Publikum bläst: Der Ultra-Block von Fortuna Düsseldorf würde vor Neid erblassen. Maurice von Bilderbuch, die übrigens eines der besten Konzerte des Wochenendes liefern, erzählt, wie sie früher in einen roten Renault Clio gequetscht angereist sind und nie gedacht hätten, hier selbst mal zu spielen. Ähnliches hört man von Muff Potter, Steiner und Madlaina waren gerührt, dass nicht nur die fünf Freunde gekommen sind, die sowieso das Festival besuchen wollten. Sie waren am Freitag der erste Act, abseits des Festivalgeländes auf der Landebahnbühne im Campingbereich, und zeigten gleich, wie witzig, schlau und relevant aktueller Pop sein kann. Leider haben es auch in diesem Jahr wenige weibliche Acts in das Line-up geschafft, in den sechs großen Headliner-Bands spielt nicht eine Frau und auch sonst ist Diversität spärlich gesät.
Der Freitag besticht dann nach offiziellem Festivalstart noch mit einer Gnadenfrist, was die allgegenwärtigen Regenwarnungen im Vorfeld angeht, und durch Kontraste. Auf der Main Stage spielen die Australier von Wolfmother ein energiegeladenes Set aus intensivem Retro-Rock, das sich stark an ihrem Erfolgsdebüt aus 2005 orientiert. Im Anschluss treten Christine And The Queens auf und schaffen es, sogar einige hartgesottenen RockerInnen, die auf die Foo Fighters warten, mitzureißen. Die Tanzperformances stehlen hier der Musik fast die Show und Héloïse Letissier lässt ein glückliches Publikum zurück, das im Glitzerregen tanzt und Regenbogenfahnen schwenkt. Sie macht einige der wenigen politischen Ansagen an diesem Wochenende. Und während sich auf der Main Stage Hard Rock mit Christines Mischung aus klassischem französischen Chanson und R&B abwechselt, zeigen auf der Blue und der Red Stage OK Kid, Fünf Sterne Deluxe und der britische Indie-Rapper The Streets, dass das Southside auch in Sachen Hip Hop breit aufgestellt ist. Am Abend versammelt sich die Festivalgemeinde noch einmal vor der Green Stage und die Foo Fighters liefern ein gewohnt professionelles Set ab, das Hits aus 25 Jahren Bandgeschichte bereithält. Hier werden Hardcore-Fans, die jede Ansage mitsprechen können, und diejenigen, die sich bei einem Bier mal Rocklegenden anschauen wollen, glücklich. Dave Grohl beschwert sich, dass sie nur 2,5 Stunden Bühnenzeit bekommen haben – normalerweise spielen sie 3 Stunden. Bei The Sky Is A Neighborhood ist unter den Backgroundsängerinnen auch Violet Grohl, die 13-Jährige unterstützt ihren Dad auf der Europa-Tour und ist sichtlich peinlich berührt von den Lobgesängen ihres Vaters. Wie schön, dass Teenagerprobleme auch vor Rockstars nicht haltmachen. Gegen Ende der Show versichert Dave Grohl noch, dass er jetzt auch The Cure anschauen wolle, weil er sie noch nie live gesehen habe. Und so taumeln die Massen, die eben noch kollektiv gesprungen sind, nach Mitternacht zur Blue Stage, wo The Cure zeigen, wie Melancholie funktioniert.
Am Samstag werden die von Anfang an über dem Festival schwebenden Unwetterwarnungen wahr. Die Folk-Punks von Skinny Lister starten noch unter Sonnenschein, aber schon während des Sets von Alice Merton ziehen Wolken auf – der Veranstalter rät zur Vorsicht. Die Popmusikerin macht allerdings so viel Spaß, dass aus der Menschenmasse eine Flut an Regencapes wird, die sich im Takt wiegt. Die deutsche Hip-Hop-Band Neonschwarz und Bear’s Den spielen dann noch gegen den Regen an, während die beiden Indie-Rock-Frauen von Gurr im Zelt trocken bleiben. Gegen 17 Uhr ist der Spuk vorbei, das Gelände ist schlammig, aber keine Katastrophe, es werden Stroh und Hackschnitzel gestreut, weiter geht’s! Während draußen die Massen zu Teesy springen, erlebt man auf der White Stage im besagten Zelt bei Pond eine wirklich magische Show, die wegzieht von dieser lauten Festivalwelt. Vor kleinem Publikum spielt die psychedelische Band ein wirklich herausragendes Konzert und schürt die Vorfreude auf Tame Impala am Abend. Nach Alma, Bosse und Parkway Drive wird es langsam dunkel draußen – der Abend bricht an und die großen Namen kommen. Bilderbuch – mit extravagantem Bühnenbild aus Sternen, Planeten und einem Snack-Kühlschrank – spielen ein Popkonzert, das als einzigartig hängen bleibt. Mit Europa-Message im Gepäck und nicht dem Fehler verfallen, bei Festival-Sets nur die großen Hits zu bringen, schaffen sie es, moderner zu wirken als alle anderen Acts an diesem Tag. Vor allem im Kontrast zum Spektakel der Toten Hosen, die zwar Pyrotechnik, alte Punk-Hits und neue Gassenhauer bringen, aber durch zwei sehr lange Pausen zwischen den Zugaben sogar die Fans verärgern. Tame Impala beweisen am Ende des Festivaltages vor dezimiertem Publikum, wofür Festivals da sind: Mit aufwändigen Back-Drops, fulminanter Set-List und absolutem Einsatz sind sie der perfekte Abschluss, was auch damit zu tun hat, dass Kevin Parker es immer wieder schafft, mitzureißen und dann loszulassen.
Am Sonntag herrscht Aufbruchstimmung. Zelte werden abgebaut, Bierdosen werden gezählt, die Sonne ist wieder da, ein Tag geht noch. Die Stuttgarter Punkrock-Band Schmutzki motiviert die Massen um 12 Uhr mittags auf der Main Stage zum Endspurt. Auch Frank Turner & The Sleeping Souls und Flogging Molly geben alles, damit bloß keine Müdigkeit aufkommt. Es funktioniert, es wird gesprungen, geschrien und getanzt als gäbe es kein Morgen. Gut, an Montag will hier wahrscheinlich gerade niemand denken. Ruhiger geht es beim nordirischen Geheimtipp Rosborough auf der White Stage zu, auch Muff Potter machen zwar ordentlich Dampf, sorgen aber eher für gemütliche Katerstimmung in der Sonne auf dem getrockneten Gelände. Das Highlight-Konzert des Tages spielen Bloc Party. Die Londoner Indie-Band besticht durch Energie und Coolness, der Sound ist dabei lässig und aktuell. Während Macklemore auf der Blue Stage ein Feuerwerk aus Hits zündet, ein entspannter Kontrast. Zu AnnenMayKantereit versammelt sich die Festivalgemeinde wieder fast komplett, es gibt Mitbrüllen, Klavierspiel und eine Performance inmitten der Fanmassen. Und dann: Mumford & Sons! Riesige Bühne, riesige Menge und trotzdem sind plötzlich alle ganz ruhig. Die Band, die Folk zum Mainstream gemacht hat, spielt einen Mix aus alten Hits und aktuellen Songs und plötzlich liegen sich alle in den Armen. Wie man Massen dirigiert, haben sie raus. Und so geht wahrscheinlich niemand mit einem schlechten Gefühl nach Hause. Diese gefühlige Band am Ende zu bringen und lichttechnisch noch einmal alles aufzufahren, hat sich gelohnt.
Die Bilanz? Was geht: professionelle Organisation, sehr gute Kommunikation während des Festivals, große Bands, große Partys, ein guter Grüner-Wohnen-Campingplatz, perfekte An- und Abreise-Organisation, viel freundliches Personal. Was fehlt: Diversität, kleine Inseln im großen Getümmel und bezahlbare Getränke. Aber wenn am Sonntagabend mehrere Zehntausend Menschen zu Awake My Soul schunkeln, merkt man, dass die Kraft der Masse eben manchmal doch unwiderstehlich ist. Der Erfolg scheint den MacherInnen Recht zu geben: Die erste Preisstufe für 2020 ist schon ausverkauft – auch mit nur einem bestätigten Act im Line-up: SEEED.
Ausgewählte Konzerte von Hurricane und Southside findet ihr in der arte Mediathek!