„9-1“
9. Woodkid – S16
Diesmal wollte er etwas industrielles kreieren, erklärte Yoann Lemoine, audiovisueller Ausnahmekünstler, der 2011 als Woodkid und mit Iron im Gepäck plötzlich auf den musikalischen Bühnen der Welt auftauchte und sein Talent für epische Gesamtkunstwerke 2013 mit seinem Debütalbum The Golden Age unterstrich. Dabei sieht er S16 nicht as Fortsetzung zu den narrativen Erzählungen von The Golden Age, sondern als dokumentarisches Werk, das soziale und politische Themen hinterfragt, ohne dabei Antworten liefern zu wollen. Auch wollte er Zeit verstreichen lassen, seinen Erfolg verarbeiten und idealerweise auch ein wenig vergessen werden: „I wanted to challenge myself to be forgotten“ Um möglichst unabhängig von seinem Erstwerk das neue Album als etwas wirklich Neues und Eigenes anzugehen, inspiriert von seiner Faszination mit dem Großen, dem Mächtigen. Als atemberaubendes Experiment lässt sich das Album beschreiben, als musikalische Reise, auf die Lemoine uns mitnahm und deren visuelle Interpretationen, ob in Video- oder Live Format, immer nochmal um mindestens ein Level epischer wurden. Episch, epischer, am epischsten. Und dann Woodkid, so ungefähr.
8. HAIM – Women In Music Pt. III
Dass man sich im Leben immer wieder neuen Hürden gegenübergestellt sieht, ist nichts Neues und gerade im Job fühlt man sich immer wieder mit Vorurteilen konfrontiert. Dass das Schubladendenken aber im Jahr 2020 nicht einmal vor Bands wie HAIM Halt macht, gibt einem wirklich zu denken. Denn die hochbegabten HAIM-Schwestern gelten zwar im Allgemeinen als fröhliche Wesen, wie man sie sich, geschlüpft unter der Sonne Kaliforniens eben nur vorstellen kann, doch auch sie mussten während ihrer jahrelangen Arbeit im Musikgeschäft einiges einstecken. Doch damit ist jetzt Schluss und so machten sie, in ihrem schon dritten Album Women In Music Pt. III ihrem Ärger gehörig Luft. Aber wer dachte hier wird gepöbelt, der irrte, denn vielmehr fuhren sie mit ganz neue Facetten auf und verstecken ihre Botschaften an die Welt lieber in ihren einprägsamen Mitsing-Lyrics. Das Gute an den ganzen Problemen und Missverständnissen ist, dass HAIM nicht daran zerbrochen sind, sondern wuchsen. Denn das Album klingt trotz der ganzen Ernsthaftigkeit nach Sonne im Haar und lauen Sommernächten, womit die drei Schwestern wieder mal ihr Händchen für Mehrdimensionalität bewiesen und die ganzen Hater der Vergangenheit ganz schön alt aussehen ließen…
7. Laura Marling – Song For Our Daughter
Song For Our Daughter ist das Produkt einer Reihe von Veränderungen in Laura Marlings Leben. Ihre oft tief bewegenden Texte und ihre außergewöhnliche Stimme bleiben erhalten und schaffen trotz der formalen Distanz des Schreibens über andere eine Intimität, die sich auch in den ungefilterten Arrangements wiederfindet. Marlings siebtes Album ist eine Platte, auf der es bei jedem Hördurchgang etwas Neues zu entdecken gibt und deren Vielschichtigkeit sich nicht in kitschiger Opulenz widerspiegelt, sondern die durch eine unmittelbare Klarheit brilliert.
6. Nadia Reid – Out of My Province
Nach Listen to Formations, Look for the Signs und Preservation präsentierte die neuseeländische Songwriterin Nadia Reid Anfang März 2020 ihr neues Album Out of My Province veröffentlicht. Gefühlsgeladene Songs versammeln sich darauf, präsentiert mit unaufgeregter Stimme und auch die musikalische Untermalung erklingt mit angezogener Handbremse – in der Ruhe und im Detail liegt eben die Kraft der Songs, die einem die innere Entwicklung der Künstlerin während einer Reise nachzeichnen. Großes Songwriter-Tennis!
5. Porridge Radio – Every Bad
Geboren aus der DIY- und Open Mic-Szene im britischen Küstenort Brighton, wurde aus Porridge Radio unter der Führung der exzentrischen Frontfrau und Gitarristin Dana Margolin innerhalb kürzester Zeit eine der angesagtesten Indie-Formationen der letzten Jahre. Nach dem selbst produzierten Debüt Rice, Pasta And Other Fillers (2016) folgt mit Every Bad der zweite Wurf des hochgehandelten Projekts. Laut, progressiv und richtungsweisend, aber doch voller kleiner nach innen schauender Momente, ist diese Platte ein breit gefächertes Werk voll ehrlicher Aussagen, starker Botschaften, brilliert vor allem aber durch eines: einen eingängigen Sound, der einen so schnell nicht mehr loslassen will, wenn man sich einmal auf den Vibe dieser Band eingelassen hat.
4. Taylor Swift – folkore
Taylor Swift goes Indie! Was noch vor kurzem kaum zu glauben gewesen wäre, ist in diesen eh verrückten Zeiten auch nicht mehr schockierend. Mit folklore zeigte Miss Swift also eine weitere musikalische Seite. Nach Country, Pop und R’n’B wagte sie sich nun mithilfe von Aaron Dessner von The National an Folk und Indie. Ihr Albumrelease war eine Überraschung. Dass ihr dieses Album auch gelingt, nicht wirklich.
3. Phoebe Bridgers – Punisher
Als Phoebe Bridgers vor gut vier Jahren ihr Debütwerk Stranger In The Alps veröffentlichte, war die heute Singer-Songwriterin aus Los Angeles noch eine große Unbekannte. Der eingängige Folk-Pop ihres Erstlings war, dem ersten Schein nach, zunächst nichts bahnbrechend neues und es wäre sicherlich ein Leichtes gewesen, die Künstlerin nur als weitere nette weibliche Stimme auf den Spuren einer Joni Mitchell abzutun. Doch nicht nur wurde das Solodebüt von der Kritik nach und nach mit viel Wohlwollen beachtet, auch legte Bridgers in der Folge einen Aufstieg hin, der mit nichts weniger als kometenhaft betitelt werden kann. In 2018 formierte sie gemeinsam mit Julien Baker und Lucy Dacus das Trio boygenius, im nächsten Jahr veröffentlichte sie direkt ein Album mit Kollaborateur Conor Oberst, mit dem Nebenprojekt Better Oblivion Community Center. Eine Zusammenarbeit mit The Nationals Matt Berninger im selben Jahr sowie ein Feature auf dem neuen Album von The 1975 erscheint da nur noch wie die Krönung ihres jungen Erfolgs. Mit Punisher, der vierten Veröffentlichung und dem zweiten Solowerk, festigte Bridgers nun in 2020 ihren Ruf als gnadenlos komplexe Songwriterin – und sie tat dies mit facettenreicher Schönheit, die von mehr Weisheit spricht, als man von ihrer Musik vielleicht erwarten würde. Die Künstlerin hat hier nicht nur ein atemberaubendes Set an verschachtelten und introspektiven Folk-Songs geschaffen, sondern dem auch eine solide Textarbeit zugrunde gelegt, welche der verstörenden und beängstigenden Seite unserer Welt eine raue Ehrlichkeit und Offenheit entgegensetzt. Das klingt mal verworren und verwirrt, mal euphorisch und frei, ist aber immer von einer Schönheit vereinnahmt, die begeistert, durchdringt und, fast schon versöhnlich, in den Arm nimmt.
2. Adrianne Lenker – Songs & Instrumentals
2019 veröffentlichte Adrianne Lenker mit ihrer Band Big Thief gleich zwei supererfolgreiche Alben. Anfang 2020 wurde die ausverkaufte Europa-Tournee durch die Corona-Pandemie abrupt unterbrochen. Wieder zurück in den USA zog sich Adrianne Lenker in eine winzige Hütte in den Bergen im Westen von Massachusetts zurück. Dort saß sie mit einem gebrochenen Herzen, niedergeschlagen und mit einer Pandemie vor der Tür und fühlte sich so verbunden mit dem Ort, dass sie das Gefühl hatte, im Inneren einer Akustikgitarre zu leben. Manchmal lag sie einfach stundenlang auf dem Boden. So rief sie Soundengineer Philip Weinrobe an und fragte ihn, ob er Lust hätte, ein Album aufzunehmen, das eben genau so klingt – wie das Innere ihrer Gitarre. Alben, für die sich Künstler:Innen eingeschlossen und in der Abgeschiedenheit intime Portraits ihres Innenlebens verfasst haben, gibt es viele (und wird es wohl nach 2020 noch umso mehr geben). Das Doppelalbum songs + instrumentals von Adrianne Lenker ist trotzdem etwas Besonders. Nicht, weil es noch eins drauf setzt, sondern weil die Abgeschiedenheit wirklich mitklingt, weil die Einfachheit der Aufnahmetechnik, das natürliche Gitarrenspiel und ihre schonungslosen Lyrics eine Nähe schaffen, die unter die Haut geht. Man möchte sich neben sie setzen, das Laub betrachten und einfach schweigend ihren Gedanken zuhören. In der einsamen Traurigkeit hat Lenker einige ihrer schönsten Songs geschrieben, die sicher für viele Menschen tröstliche Begleiter in schwierigen Zeiten werden.
1. Waxahatchee – Saint Cloud
Woran halten wir aus unserer Vergangenheit fest? Was müssen wir loslassen, um wirklich vorwärts zu kommen? Katie Crutchfield von Waxahatchee verbrachte einen Großteil des Jahres 2018 damit, sich diese Fragen zu stellen und besann sich auf ihre Wurzeln, um Antworten zu finden. Das Ergebnis ist Saint Cloud, eine intime Reise durch die Orte, an denen sie gewesen ist, gefüllt mit den Menschen, die sie geliebt hat. Die Neuerfindung reichte auch ins Musikalische und so schuf sie zusammen mit Brad Cook von Bon Iver einen Sound, der purer ist als ihre rockigen Vorgängerplatten und trotz seiner Reduziertheit weit wirkt. Das Ergebnis ist eine klassische Americana-Ästhetik mit modernem Touch, mit der sie ihr Talent für eindringliches Storytelling mit schonungsloser Ehrlichkeit auf den Punkt bringt.