THE NOTWIST – Vertigo Days


Foto-© Johannes Maria Haslinger

達者でいろよ
元気でいてね
達者でいろよ
元気でいてね

(The Notwist – Ship ft. Saya)

Das Warten ist schnell vergessen: Sieben Jahre nach Close To The Glass, dem letzten Album der Formation um die Gebrüder Acher aus dem oberbayrischen Weilheim, empfängt sie uns gleich wieder, diese Notwist-eigene Melancholie. Weder der Weggang von Martin Gretschmann aka Acid Pauli, Zeremonienmeister des elektronischen Wisperns und Flackerns, noch der um vier Monate verzögerte Release sind den ersten Takten auf Vertigo Days anzuhören. Rasch schlägt der extraterrestrische Folk von Into Love/Stars in einen krautigen Groove um und – ja gut, „See the rain is falling upwards“ singt Markus Acher – aber bis auf eine Post-Punk-Note im unmittelbar folgenden Exit Strategy To Myself scheint hier doch nichts Kopf zu stehen?

Die ersten Minuten lassen staunen, dass diese Band knapp 20 Jahre nach Neon Golden, dem Meilenstein und Kid A des bis dahin krachenden 90er-Trios, immer noch so gnadenlos gut klingt. Wer will, kann die seit jeher träumerisch deutungsoffenen Lyrics nach den Verwicklungen der Gegenwart auslegen: „Telephone brings it back / With rings and rings and lonely calls / As it all was nothing“ (Where You Find Me). Kommunikationsprobleme, Zurückgeworfensein auf sich selbst – alles eine aktuelle Grundgestimmtheit, aber von Pick Up The Phone (2002) über das Vorgängeralbum stets auch ein Notwist-Thema.

Doch all die Nebenprojekte, die die Bandmitglieder in den letzten Jahren auf Trab hielten, sind nicht unbemerkt am Mutterschiff vorbeigezogen. An einer kleinen Auflistung ist nicht vorbeizukommen: da ist die „Supergroup“ Spirit Fest um Markus Acher und Gretschmann-Nachfolger Cico Beck, das Hauslabel Alien Transistor oder das bis 2019 kuratierte Münchner Alien Festival – und deren Einfluss glaubt man herauszuhören, wenn die Freude über Vertrautes in die Begeisterung für das Neue umschlägt. Denn anstatt ihre Musik nur als Interpretationsfolie für die allseits bekannte Abgeschiedenheit der letzten Monate anzubieten, zieht die Band entschieden andere Schlüsse, als sie die (nicht allein Pandemie-bedingte) Isolationsbestrebungen herausfordern: The Notwist, das sind auf diesem Album auch die argentinische Elektronik-Künstlerin Juana Molina, die US-AmerikanerInnen Angel Bat Dawid und Ben LaMar Gay sowie Saya vom japanischen Duo Tenniscoats, das dem Acher-Kosmos ohnehin schon länger verbunden ist. Vertigo Days stellt das Konzept Band mitsamt der Idee geschlossener Gruppenidentitäten damit gehörig auf den Kopf.

Für argwöhnisches Bedenken, ob diese illustren Namen nicht nur schmückendes Beiwerk seien, machen die temporären Mitglieder nämlich einen Gutteil der Substanz der Songs aus. Während das Album also von Ship mit Sayas Gesang zu dem von Angel Bat Dawid an der Klarinette begleiteten Into The Ice Age wandert, wächst Markus Acher immer mehr aus seiner Front-Rolle in die eines Erzählers hinein. Mal ganz abwesend, mal im entscheidenden Moment zurück (Loose Ends), geleitet er die HörerInnen durch das Klangdickicht verschiedenster Einflüsse. Auf Oh Sweet Fire, dem vielleicht besten Song, schwebt seine Stimme schließlich nur geisterhaft im Hintergrund, während Ben LaMar Gay zum Sprechgesang über zwei Liebende ansetzt, die Hand in Hand den Aufstand proben. Was ist schon sicher, wenn „the block’s on alert / as red as the eyes that are glaring“. Gewiss dagegen sind nur die Serotoninschübe, wenn sich der Song mit seinem schwingenden Bass aus dem Vorgänger Into The Ice Age herausschält. Der plötzliche Wandel erinnert an die Notwist-Konzerte, auf denen die Band aus den krachenden Gitarrenriffs schon mal einen minutenlangen Techno-Track extrahiert.

Sowieso fließt auf diesem Album alles ineinander: Wie ein Mixtape, ein DJ-Set, eine lange Improvisation, zusammengehalten vom altvertrauten Notwist-Sound und feinen Zwischenspielen, die an die Soundtrack-Projekte der letzten Jahre erinnern. Während der Vorgänger den knackigen Live-Sound der Band einfing, macht diese Dichte Vertigo Days hörbar verwunschener. Zugleich glückt es der Band, nachdem sie die Vermählung von Loop-Basteleien und verträumtem Folk längst gemeistert haben, erneut zwei vermeintliche Kontrahenten zu versöhnen: Mal gibt man sich herausfordernd – wie auf Al Sure, das ganz Juana Molina gehört, mal zugänglich wie selten zuvor (Sans Soleil), bis alle gemeinsam im Wiegenlied Into Love Again versinken.

Es ist eine kleine Neuerfindung, die The Notwist mit ihrem mittlerweile achten Studioalbum gelingt – wobei angesichts dieser Frische vom Label „Spätwerk“ abzuraten ist. Das gilt übrigens auch für die nach 30 Jahren Bandgeschichte lockenden Einordnung als prägendes deutsches Pop-Output neben Kraftwerk: Hier die modernistischen Hohepriester, hierarchisiert, kalkuliert und perfektioniert, dort die einstigen Weilheimer Buam mit ihrem Gegenentwurf zu den kühlen Schauern der Computerliebe? Ein Glück, das The Notwist diesen engstirnigen Vergleichsrahmen jetzt endgültig durchbrechen. Vertigo Days beweist: Die Mensch-Maschine muss kein geschlossenes System sein.

The Notwist – Vertigo Days
VÖ: 29. Januar 2021, Morr Music
www.notwist.com
www.facebook.com/thenotwist

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