“Children of Bethlehem, come all boys and girls,
Come Listen to these, my eternal words
Judge not who you see by whatever they may say
But by their round eyes, lips, ears and curves
A man is his country, your country is you
All bad is forewarned, all good will come true”
These words are heard on Main Street when John L comes to town
(black midi – John L)
Was soll schon noch kommen nach Schlagenheim musste man sich fragen, als man sich an die Genialität und den Wahnsinn von black midis hochgelobtem Debüt gewöhnt hatte und gleichzeitig immer noch nicht so richtig glauben konnte, was man da hört. Die Antwort, liegt nun in Form der berüchtigten zweiten Platte vor. Wieder bei Rough Trade erschienen, wurde sie Cavalcade getauft. Hinter diesem kryptischen Begriff verbirgt sich so etwas wie eine Prozession, ein feierlicher Zug durch eine Stadt.
Nach dem Aufstieg in den Rock-Olymp des 21. Jahrhunderts nun also Selbstbeweihräucherung? – Natürlich nicht. Statt sich selbst, lassen sie verschiedene Persönlichkeiten und ihre Geschichten über neun Stücke lang an uns Schaulustigen am Wegesrand vorbeiziehen. Und ja, das hat es verdammt nochmal in sich. Wie erwartet kann man auch diesmal eine trennscharfe Genreverortung ausschließen. Die drei Briten Greep, Picton und Simpson (nach dem ausgestiegenen von Kwasniewski-Kelvin) greifen alles auf, was jemals vor dem Horizont der Musik als solche benannt wurde.
Wie schon auf dem Single-Vorboten des Albums, John L, zu hören war, geht es zunächst wild zu. Aggressiv, bedrohlich und einnehmend führt John Fifty die Kavalkade an. Doch kaum ist der Krach von Gitarren, Saxofon und Schlagzeug verstummt beginnt eine zurückhaltende Akustik-Gitarre und Marlende Dietrich prozessiert in ihrer atemberaubenden Präsenz an uns vorbei. Musikalisch plötzlich in einem Lichtjahre entfernten Universum legen sanfte Streicher und eine kleine Band für die große Bühne eines Ballsaals einen stimmlich erstaunlich ausgereiften und sanften Nachgesang auf die große Hollywood Ikone hin: „As the big curtains open / The last troops run in quick / For the one and only / Marlene Dietrich.“
In diesem Modus von Erwartungsaufbau und radikaler Dekonstruktion zwischen John und Marlene bewegt sich nun der feierliche Zug voran. Math-Rock, Jazz, Metal, Chanson, Rock-Opera – Cavalcade ist alles davon und im nächsten Moment wieder genau das Gegenteil. “The emphasis when we were making and sequencing Cavalcade was to make music that was as dramatic and as exciting as possible”, erklärt Geordie Greep. Ohne Frage, das hat geklappt. Mit dabei: die Partner in Crime, Saxophonist Kaidi Akinnibi und Keyborder Seth Evans von Black Country, New Road, die eine sehr ähnliche musikalische Idee und immer wieder auch die Bühne teilen. Grade das Saxofon von Akinnibi fügt sich auf Stücken wie dem high-tempo Brecher Slow so ein, als wäre es für den Sound von black midi geschaffen.
Einen weiteren faszinierenden Kontrast bringt das atmosphärische Diamond Stuff. Einzelne gezupfte metallische Gittarensaiten wie das verwunschene Klimpern in einer Diamantenmine entwickeln sich vor dem Hintergrund einer dunkeln Erzählstimme mit Keyboards und Streichern a la Pink Floyd zu einem jazzigen Wohlklang, in den man sich nur so hineinlegen will. Wenn man sich bis dato nicht noch einmal in das virtuose Schlagzeugspiel von Morgan Simpson verliebt hat, tut man es spätestens auf dem treibenden Dethroned. Die Band ergänzt sich auch hier wieder so kongenial wie eine in Improvisation ausstudierte Jazzkombo, die allerdings knallharten Rock spielt, temporeich, dynamisch und technisch hoch anspruchsvoll. Man kann nur den höchsten Vorsitz des Rock-Olymps anflehen das noch dieses Jahr live erleben zu dürfen.
Das Album verabschiedet sich dann noch, passend zum Überfluss an Stilwechseln, mit einem zehnminütigen Musical-Stück (Ascending Forth), während dem man volle zehn Minuten vergessen kann, warum man Musicals eigentlich nie leiden konnte. Vielleicht wäre das ja noch die diesjährige Option: black midi live mit Abstand auf roten Sesseln im Londoner West End.
Wenn es ein Rock-Album mit neun Stücken schafft eine fast absurde Wechselhaftigkeit so zu etablieren, dass einem alles andere langweilig und gewöhnlich vorkommt und man dann noch von der Magie des Musicals überzeugt wird, dann kann man sagen, hat sich die viele Arbeit hinter dem Album gelohnt. Von der vielen Arbeit berichten die Briten nämlich und erklären, dass sie sich nicht hinter der Idee vom perfekten Moment der Entstehung verstecken wollten. Cavalcade ist tatsächlich mehr als das und viel mehr als man erwarten konnte. Nach Cavalcade traut man black midi alles zu.
black midi – Cavalcade
VÖ: 28. Mai 2021, Rough Trade Records
www.bmblackmidi.com
www.facebook.com/blackmidi
black midi Tour:
01.12.21 Kampnagel, Hamburg
08.12.21 Festsaal Kreuzberg, Berlin
12.12.21 Gebäude 9, Köln