In einer verregneten Nacht lässt sich der junge Student Tôru Nishikawa tranceartig durch die verregneten Straßen Tokios treiben, bis er schließlich unter einer Brücke am Ufer des Arakawa Unterschlupf sucht. Anstatt der erhofften Gelegenheit für eine trockene Zigarettenpause findet er dort jedoch eine Leiche mitsamt einem Revolver. Der Lawman MK III 357 Magnum CTG – so die genaue Bezeichnung der Waffe – fasziniert Nishikawa von der ersten Sekunde an. Er fühlt sich von der handwerklichen Raffinesse, der Haptik und dem erhabenen Machtgefühl eingenommen und schnell ist der Entschluss gefasst, dem metallischen Fundstück eine neue Heimat zu geben. Doch die Anziehungskräfte des Revolvers werden immer größer und der Wunsch die Waffe zu benutzen keimt zusehends in Nishikawa auf.
„Es fühlte sich an, als würde der Revolver mir helfen, aus meiner verschlossenen Welt
auszubrechen, als würde er mich dahin führen, wo alles möglich war.“
Der Revolver ist bereits der dritte Roman von Fuminori Nakamura der ins Deutsche übersetzt wurde, jedoch handelt es sich hierbei um den eigentlichen Debütroman des Japaners, der auf dem besten Weg ist, in einem Atemzug mit den Nobelpreisträgern Yasunari Kawabata und Kenzaburo Oe genannt zu werden. Auf knapp 200 Seiten zeichnet Nakamura ein intensives Psychogramm eines verlorenen Jugendlichen, der sinnhaft für so viele junge Menschen in unserer Zeit steht: Körperlichkeit und Emotionen werden entkoppelt, eine ständige Reizüberflutung führt zu Antriebslosigkeit und einer Suche nach dem Sinn des Lebens, der sich auch Nishikawa nicht entziehen kann. Immer wieder fühlt sich der Protagonist von zwischenmenschlichen Begegnungen gar angeekelt und Beziehungen scheinen für ihn keine großartige Bedeutung zu besitzen. Einen ersten Lichtblick in seiner Existenz kreiert die Sensation des gefundenen Revolvers, Gefühle die Nishikawa gar in eine suchtähnliche Spirale stoßen. Um jene neugewonnene Intensität in seiner Wahrnehmung aufrecht zu erhalten, steigt das Verlangen den Revolver auch abzufeuern und damit die Frage, ob allein der Besitz einer Waffe zur Tat verführt.
Der Revolver ist trotz der plakativen Waffe und des Settings um einen Mord alles andere als ein klassischer Krimi. Einnehmende Sprache, der japanische Ich-Erzähler und eine gute, fließende Übersetzung tragen zur Immersion bei und schnell bangt man um den Ausgang von Nishikawas Gelüsten. Dabei wurde der Abzug schon auf den ersten Seiten gedrückt und die Geschichte entfaltet sich mit einer Stringenz, die an ein Projektil erinnert, das gerade den Lauf eines Revolvers verlassen hat. Eine glänzende Kugel der Zerstörung, die sich unnachgiebig durch Zweifel und Hindernisse bohrt und einen Leser sowie Protagonisten zurücklässt, der mit den Konsequenzen seiner Taten leben muss.
Fuminori Nakamura – Der Revolver
VÖ: 28. April 2021, Diogenes Verlag
Taschenbuch, 192 Seiten
ISBN 978-3-257-24584-4