Foto-© Silvia Cesari
Wenn KritikerInnen verkünden, man müsse sich für dieses lange, sehr atmosphärische Album „viel Zeit nehmen“, dann bestehen gute Chancen, von den betreffenden Songs bald in diversen Focus– und Stress-Relief-Playlists beglückt zu werden. Ein ganzes Album am Stück zu hören ist zur Selfcare-Praktik geworden, verheißt auf Nachtmodus gedimmte Displays und sanfte Berieselung, um morgen wieder fit für die ach so schnelllebige Welt zu sein. Nicht falsch verstehen: ASMR-artiges, sehr bewusstes(!) Klavierspiel und meditative Klanglandschaften haben ihre volle Daseinsberechtigung. Aber zum Glück schlägt Jacopo Incani aka Iosonouncane (deutsch in etwa „IchbineinHund“) auf IRA einen ganz anderen Weg ein. Über fünf Jahre hat der italienische Musiker, nicht Berlin-, sondern Bologna-based, an seinem dritten Studioalbum gefeilt und auf knapp zwei Stunden Musik verdichtet, für die man sich – jetzt aber wirklich – Zeit nehmen muss.
Denn so monumental wie das Vorhaben ist auch der Sound dieses verworrenen Fiebertraums, der die HörerInnen mit einer ganz eigenen Zeitrechnung erwartet: da vergehen schon mal fast zehn Minuten, bis gedämpfter Gesang und langgestreckte Synthesizer-Fäden von einer wilden Horde galoppierender Drums überrollt werden, da brechen Songs in drei oder vier Bestandteile und klaffen plötzlich Abgründe hinter schwermütig rollendem Dub. Stress Relief gibt es hier nur punktuell – und zieht einen bloß weiter hinein in den Strudel aus Soundtexturen und knapp gehaltenen Gesangspassagen.
Mit seinen verschlungenen Spannungsbögen bietet IRA kein Kopfkino auf Knopfdruck, sondern bestes elektronisches Geschichtenerzählen: im Kleinen bringen minimale Klavierakkorde die von einem zum anderen Ohr sägenden Bässe auf den Punkt; im Großen lösen zwischendrin Tracks wie Nuit und Prison die Spannung auf – doch bevor die imaginären Credits rollen, wird in Godspeed You! Black Emperor-Manier mit Sample-Fetzen über sirenenartigen Synthesizern quergeschossen. Konventionelle Songstrukturen, wie sie die viel-gestreamte Single-Auskopplung Stormi vom Vorgänger DIE (2015) bot, sind dementsprechend selten. Stattdessen fährt Iosonouncane das Songwriting hinunter und macht Platz für alles Widerborstige, das sich in seinem bisherigen Werk noch mit Akustikgitarren und Refrain-Strophe-Refrain-Abfolgen biss. Wer sich da an Nicolas Jaar und dessen Wanderungen zwischen After Hour und Flammenwerfer erinnert fühlt, liegt ganz richtig.
Also auf geht’s, kühlende Heilerde aufgetragen, Bad eingelassen und zwei Stunden für Iosonouncanes IRA reserviert – aber erwartet nicht, morgen früh fitter, happier, more productive zu sein.
Iosonouncane – IRA
VÖ: 14. Mai 2021, Numero 1
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