In Patrícia Melos Roman Gestapelte Frauen begleiten die Leser*innen die namenlose Ich-Erzählerin, die von ihrer gewalttätigen Beziehung in São Paulo in die Provinz Acre im Amazonasgebiet flieht. Dort beobachtet die junge Anwältin Gerichtsverhandlungen und sammelt Daten zu Tötungsdelikten an Frauen, die ausschließlich auf der Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht basieren, sogenannte Femizide. Bereits der erste Prozess schockiert durch seine Brutalität. Die 14-jährige indigene Txupira wurde von drei jungen Männern aus gutem Hause gefoltert, vergewaltigt und ermordet. Trotz belastender Zeugenaussagen endet das Verfahren, wie so oft, mit einem Freispruch.
Die Protagonistin sammelt diesen und weitere Fälle, denen sie auf der Arbeit begegnet. Seiten über Seiten von ermordeten Frauen kommen zusammen und liegen als die titelgebenden gestapelten Frauen übereinander in einem Album. Ein Fall sachrecklicher als der andere. Um der Grausamkeit der Wirklichkeit zu entkommen, nähert sie sich einer indigenen Gemeinschaft im Amazonasgebiet an und nimmt an traditionellen Ayahuasca-Ritualen teil. In Trance kann sie ihre Rachefantasien an den Mördern ausleben und Seite an Seite mit den ermordeten Frauen kämpfen, gleichzeitig muss sie sich auch ihrer eigenen Geschichte stellen: Dem Mord an ihrer Mutter durch ihren Vater, sowie ihrer eigenen Beziehung, in der Gewalt gegen sie angewendet wurde.
Gestapelte Frauen erzählt von dem Leben der Protagonistin unter der unausweichlichen Präsenz der Femizide in Brasilien und wirkt dabei auf mehreren Ebenen. Neben der Haupthandlung bieten Fallberichte, sowie die bereits erwähnten rituellen Fantasien verschiedene Blickwinkel auf deren Umgang mit der Thematik. Jede dieser Ebenen unterscheidet sich stilistisch voneinander, was jedoch keinesfalls zu Störungen im Lesefluss führt. Im Gegenteil – der Wechsel von erzählenden, lakonischen und fast schon poetischen Passagen ermöglicht die Möglichkeit beim Lesen eine Vielfalt von Empfindungen zu erfahren. Während in den Kurzkapiteln der Fallberichte mit einer brachialen Sachlichkeit von Femiziden berichtet wird, die manchmal nur schwer zu ertragen ist, lesen sich die Abschnitte der Fantasieebene wie im Drogenrausch: intensiv, rasend, voller Emotionen.
Patrícia Melo ist ein gesellschaftskritischer Roman gelungen, der schmerzhaft offenlegt, dass viele Länder noch immer patriarchal, sexistisch und rassistisch geprägt sind. Dieser Art der Diskriminierung macht Feminismusarbeit in Lateinamerika zu einem schieren Kampf ums Überleben, befinden sich hier doch vierzehn der 25 Länder mit den höchsten Femizidraten. Gerade deshalb hat die Autorin wohl auch keine Scheu das Ausmaß der Gewalt durch Männer, manchmal etwas plakativ, zu benennen und öffnet damit eindrucksvoll die Augen für das Leid der Frauen als Resultat eines gewachsenen Systems und Ausdruck des Patriarchats. Gestapelte Frauen ist ein eindringliches Buch dessen Inhalt nach dem Lesen nicht so einfach ins Bücherregal gestellt und vergessen werden kann.
Patrícia Melo – Gestapelte Frauen
VÖ: 15.02.2021; Unionsverlag
Hardcover, 256 Seiten
ISBN 978-3-293-00568-6