HOME – Filmkritik


Foto-© Augenschein Filmproduktion GmbH, Frank Griebe

Delta: „Why did you come back here?“
Marvin: „Because this is my home and I have nowhere else to go!“

Freiheitsentzug, Gefangenschaft, Strafvollzug – Begriffe, die eine Dimension annehmen können, wie sie Nicht-Betroffene oft kaum erahnen können. Dass es diese Maßnahme zu Bestrafung von Verbrechen gibt hat seinen Grund und die meisten Menschen, die sie erleben müssen, haben sie sich auf die ein oder andere Weise selbst verschuldet. Doch was so ein Entzug der Freiheit, so ein Abgeschnitten-Sein von der Wirklichkeit mit Menschen macht, ist nur wenigen klar. Auch, dass eben jene Gefangene immer noch Menschen sind, wird oft vergessen. Regisseurin Franka Potente zeigt in ihrem neuen Film Home auf nahbare, eindrückliche und erschreckend nüchterne Art wie die Realität eines Ex-Sträflings nach der Freilassung aussieht und was eine Gefangenschaft mit dem Begriff der Heimat machen kann.

Marvin (Jake McLaughlin) hat es geschafft. 17 Jahre seines Lebens sind hinter Beton und Metallstäben verstrichen und endlich ist er frei. Frei, dorthin zu gehen, wo er will. Ein großer Paukenschlag, ein Ausruf der Freude, eine neugewonnene Euphorie des ehemaligen Häftlings bleibt jedoch aus. Allein, in sich gekehrt und still fährt er stattdessen auf einem Skateboard in seine alte Heimatstadt ein wie ein Lonesome Ranger im Wilden Westen. Ob er sich freut, zurück zu sein, ob er Angst oder Reue spürt, wird aus seinem eingefrorenen Gesicht nicht klar und so beginnt der nüchterne Start von Marvin in sein neues, altes Leben.

Genauso anonym wie Häftlinge im Gefängnis durch Nummern und Einheitskleidung gemacht werden, bleibt auch der Lonesome Ranger die ersten Minuten des Films ein Mysterium. Bei seinem ersten Stopp an einer Tankstelle, um eine Tasse Kaffee zu kaufen, beginnt erst die Dynamik des folgenden Filmes. Es sind Misstrauen, Wut bis hin zu Hass die Marvin entgegenschlagen. Dabei scheint der Protagonist sympathisch mit seiner ruhigen, geduldigen Art. Ja, er war im Gefängnis, doch warum, wird nicht verraten. Ein merkwürdiges Gefühl breitet sich im Zuschauenden aus: Wieso mag ich den Verbrecher mehr als die Einheimischen? Muss ich ihn nicht auch hassen? Ihn verteufeln? Ihm vorwerfen, dass er das alles verdient hat? Mit jeder weiteren Minute, die die Handlung voranschreitet, wird klar: Franka Potente will kein Schwarz/Weiß-Bild zeichnen. Marvin ist nicht der böse Ex-Häftling, der für immer verdammt gehört, genauso wie die Opfer seiner Tat nicht die reinsten Wesen auf Erden sind.

Mit dieser Realitätsdarstellung zielt Home darauf ab, zu zeigen, wie viele Facetten, wie viele Perspektiven eine so lange Freiheitsstrafe haben kann. Marvin ist nicht nur ein Lonesome Ranger, der nach fast zwei Jahrzehnten in seine Heimat zurückkehrt, er ist auch ein Zeitreisender. Ein Zeitreisender in eine Zukunft, die ihn nicht mehr will, die er nicht versteht. Als er in den Bau wanderte gab es weder Smartphones, noch Bluetooth-Musik. Marvin war nicht nur nicht Zuhause, er war nicht in der gleichen Realität wie seine ehemaligen Mitmenschen. Während für sie die Zeit weiterlief, sie mit ihrer Trauer und Wut leben mussten, wurde er in eine graue Zeitkapsel aus Beton gesteckt und nach 17 Jahren wieder ausgespuckt. Nicht verwunderlich, dass Marvin deshalb immer wieder versucht zurückzureisen. Ob mit seinem alten Highschool-Freund Wade (Derek Richardson) zu der Musik der Donots oder mit seiner Mutter (Kathy Bates) beim Dosen-Fußballspielen.

Home ist still. Aber es ist eine vielsagende Stille. Der oft nicht vorhandene Soundtrack, die monotone Farbe des Himmels und die langsam vor sich hinlaufende Story lassen der emotionalen Ebene allen Raum. Der Film ist still, die Gefühlsebene nicht. Und spätestens, wenn den Zuschauenden bewusst wird, dass sie die eigene Wahrnehmung von Gut und Böse hinterfragen, wenn sie spüre, dass auch ein Mörder immer noch Würde und Menschlichkeit – ein Zuhause – verdient hat, ja spätestens dann zeigt sich, was für ein Meisterwerk Home ist.

Home (D 2020)
Regie: Franke Potente
Darsteller: Jake McLaughlin, Kathy Bates, Aisling Franciosi, Derek Richardson, James Jordan, Lil Rel Howery
Kinostart: 29. Juli 2021, Weltkino

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Julius Tamm

Hat irgendwas mit Medien studiert, schaut gerne Filme und schreibt auch noch drüber. Autor bei bedroomdisco, FRIZZ Darmstadt, hr-iNFO Online und hessenschau Social Media.

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