Der Blick von oben herab auf die Welt fasziniert schon seit Kindertagen: Staunend hielt man in der Schulzeit das erste Mal einen Atlas in den Händen, erkundete die Erde und deren Zusammenhänge aus der Vogelperspektive und träumte sich um die Welt. Ein Gefühl, das erneut Anfang der 2000er durch die Veröffentlichung von google earth heraufbeschworen wurde und Familien kollektiv vor den Computerbildschirm bannte. Eben jene Landkarten und Luftaufnahmen bilden auch das Herzstück des Atlas der Zukunft – dem neuen Werk von Ian Goldin und Robert Muggah, das dem puren visuellen Thrill jedoch noch eine gehörige Portion Message und Wertung mit auf den Weg gibt.
Der Atlas der Zukunft zeigt ein ungewohntes und manchmal sogar surreales Bild unseres Planeten, dass den Leser aus seiner Komfort-Zone holt und zum Nachdenken anregt. In 13 Kapiteln werden aktuell große Fragen unserer Welt wie Klimaveränderung, Migration, Gesundheit oder Urbanisierung grafisch aufbereitet und thematisiert. Besonders vor dem Hintergrund der immer noch anhaltenden Covid-19 Pandemie erscheinen globale Zusammenhänge, Verbreitungen und Verflechtungen auf einmal in einem ganz anderen und teilweise sogar bedrohlichen Licht. Doch der Atlas der Zukunft ist mehr als eine plumpe Sammlung von Schaubildern und Karten, denn gerade die gut recherchierten Artikel zu jedem Kapitel überzeugen mit pointierten Quellenangaben und regen so zu kritischem Denken und nötiger Reflexion an. Karten die früher Seefahrer in neue Zeitalter geführt haben, müssen für die heutige Zeit überarbeitet und weitergedacht werden, um Zusammenhänge verstehen zu können und die Menschheit in eine bessere oder gar existente Zukunft zu führen. Doch um diese neuartigen Karten richtig nutzen zu können, müssen LeserInnen zu einem umfassenden Verständnis sensibilisiert werden: Wie entziffert man Legenden? Was wird wieso und auf welche Weise dargestellt und welche Informationen fehlen in der Darstellung? Karten und Grafiken sind nach Goldin und Muggah niemals neutral, sondern zeigen immer nur genau einen Blickwinkel. Eine wichtige Lektion, die man schon zu Beginn mit auf den Weg bekommt.
Die beiden Autoren meistern die selbstauferlegte Herausforderung mit ihrem gesammelten Kartenwerk Impulse zu setzen, egal ob es dabei um die Annäherung der verschiedenen Kulturen durch die internationale Verbreitung von Netflix oder die Lichtverschmutzung durch nächtliche Beleuchtung geht. Immer wieder gerät man ins Grübeln, besonders aktuelle Themen wie Klimawandel lassen einen durch die visuelle Eindringlichkeit erschauern. Dabei gefällt das Format des über 500 Seiten starken Wälzers und schafft die richtige Balance zwischen übersichtlichem Großformat und praktischer Handhabung. Ein Wermutstropfen ist jedoch die unzureichende grafische Qualität einiger weniger Karten, sowie deren Abbildungsgröße. Bei einem so wichtigen Buch, dessen Herzstück eigentlich auch eben jene Grafiken sein sollten, ein nicht nachvollziehbarer Schnitzer. Nichtsdestotrotz handelt es sich beim Atlas der Zukunft, um eine großartige Idee, ein grundlegend wichtiges Plädoyer für unsere Zeit und ihre Herausforderungen, sowie ein Handbuch für die Zukunft. Damit die Menschheit die nächsten 100 Jahre nicht nur überlebt, sondern auch erlebt.
Atlas der Zukunft – Ian Goldin & Robert Muggah
100 Karten, um die nächsten 100 Jahre zu überleben
VÖ: 16. Juli 2021, DuMont Verlag
512 Seiten, 500 farbige Abbildungen
ISBN 978-3-8321-9999-9