CRAIG THOMPSON – Tagebuch einer Reise

Tagebuch einer Reise - Kritik

Warum überhaupt reisen? Ist es der Wunsch nach einer Verbindung zur Welt? Der Versuch sich zu verlieren? Eine verzweifelte Flucht vor der heimischen Realität? Oder aber die verzweifelte Jagd nach einem Zuhause?

Craig Thompson ist kurz davor mit seiner Freundin nach Montpellier zu ziehen, doch anstatt einer gemeinsamen Zukunft folgt die Trennung. In Folge des Zerwürfnisses empfindet der amerikanische Comicbuchautor seine aktuelle Heimat Portland als leer und trist. Schnell folgt die Erleuchtung: Er muss fort! Kurzerhand weitet Thompson seine ursprünglich überschaubar angesetzte Signiertour zu seinem Durchbruchswerk Blankets zu einer dreieinhalbmonatigen Reise aus. Eben jene Zeit beschreibt und illustriert er in seinem gerade wiederveröffentlichten Tagebuch einer Reise, das ursprünglich bereits 2004 erschien.

Auf seinen Stationen in Paris und Marrakech, sowie in Genf und Barcelona durchlebt Craig Thompson die typischen Höhen und Tiefen eines Individualreisenden: Wie lernt man ein Land und seine Bewohner richtig, nachhaltig und authentisch kennen? Ist es okay sich unterwegs auch nach der  Heimat, Bequemlichkeiten oder einer gewohnten Mahlzeit zu sehnen? Und wie kann man überhaupt ein guter Reisender sein? All diese Fragen werden begleitet durch Zacchäus, ein kleines unförmiges Wesen, das in seinen Zeichnungen als Gewissen und Reisebegleitung auftritt, immer wieder für Reflexion sorgt und zum Nachdenken anregt. 

Neben seinen Zweifeln ist Thompson aber auch verzückt und überwältigt von seinen Eindrücken: Der einzigartigen Architektur Barcelonas und dem Ausblick in den Alpen, stehen die Schnecken eines Straßenstrandes in Fez oder ein besonders schöner Baum gegenüber. All diese Szenen hält er mit dem bereits vertrauten Zeichenstil in seinem Skizzenbuch fest und macht sie damit zu einem ganz eigenen Teil seiner Geschichte. Es sind eben auch jene kleinen Eindrücke, die manchmal viel mehr im Bewusstsein hängen bleiben, als die großen Attraktionen. Doch Craig Thompson hadert nicht nur mit seinem Status als Reisender und den Eindrücken. Immer wieder er spannt weitere Themenkomplexe um – natürlich – die Liebe, die Sicht auf Amerika in der Welt und seinen eigenen Beruf, sowie die damit einhergehenden Verpflichtungen auf. Häufig trifft er auf befreunde und bekannte Comiczeichner und so darf man sich sogar über kurze Gastbeiträge von Blutch, Charles Burns, Lewis Trondheim, Mike Allred und Charles Berberian freuen. 

Tagebuch einer Reise ist mehr als ein profanes Skizzenbuch, es lässt häufig tief und ungefiltert in die Seele und Gedanken eines tieftraurigen Amerikaners blicken. Gerade die Authentizität begeistert, die sicherlich auch in dem Tempo der Veröffentlichung begründet liegt, denn nur wenige Tage vor der Reise tritt Thompson an seinen Verleger Brett mit der Idee eines Reisetagebuches heran. Dieser ist sofort Feuer und Flamme, hat jedoch auch klare Bedingungen: Noch bevor die Reise zu Ende ist, soll das Buch in den Druck gehen, Cover, Seitenzahl und Preis werden bereits festgelegt. Ein enges Korsett und somit wenig Zeit für die Perfektion, die Thompson mit Werken wie Habibi, an dem er stolze 6 Jahre arbeitete, an den Tag legt. Umso erstaunlicher ist es, mit welcher Meisterklasse und Finesse der Autor die Herausforderung meistert.

Nach dem Lesen von Tagebuch einer Reise bleibt ein wohliges Gefühl zurück, als wäre man mitsamt Craig Thompson in den Flieger gestiegen und hätte sich auf den Weg gemacht. Ein zwischen Wanderlust und Heimweh waberndes Gefühl, als hätte man die Ambivalenz einer Reise in verstörend schöne Zeichnungen und wahrhaftige Worte gegoßen. „Es ist so leicht einen Ort zu lieben, wenn man ihn verlässt!“, ist nur eine dieser Weisheiten. Ach, könnte man doch wieder einmal die Koffer packen…

Craig Thompson – Tagebuch einer Reise
VÖ: 06. Juli 2021, Reprodukt
256 Seiten, schwarzweiß, 15 × 20,5 cm, Hardcover
ISBN 978-3-95640-271-5

Fred

Fred ist 32 Jahre, wohnt in der Pop-City Damstadt und mag Hunde, Pizza und Musik.

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