Foto-© Karina Barberis
I’m so fucking self aware, it’s exhausting
(Orla Gartland – Pretending)
Orla Gartland ist einer dieser Acts, die man mit halbem Ohr und halbem Auge schonmal irgendwo gehört und gesehen hat – und sich dann nach einer genaueren Betrachtung fragt, warum man vorher eigentlich nicht mit ganzen Ohr hingehört hat (wer sie noch besser kennenlernen will, kann hier unser Interview mit Orla lesen!). Nach 5 EPs erschien jetzt ihr erstes Album, Woman On The Internet. Den Titel könnte man auf Orla selbst beziehen: Die irische Singer-Songwriterin, die in London lebt und arbeitet, ist vor allem durch ihren eigenen Youtube-Kanal bekannt geworden, auf dem sie von zu Hause aus Cover-Versionen und später auch erste eigene Songs veröffentlichte. Bereits 2013, ein Jahr nach ihrem ersten Video, hatte sie über 10 Millionen Clicks, und ihre Debüt-Single Devil On My Shoulder erreichte Platz 2 der irischen Singer-Songwriter-Charts. Inzwischen wurden ihre EPs unter anderem auf Spotify über 55 Millionen Mal gestreamed.
Sie steht damit beispielhaft für eine Generation junger KünstlerInnen aus dem digitalen Zeitalter, die über ihre eigenen Social Media Kanäle eine Fanbase aufbauen und erst danach offline mit klassischen Bühnenauftritten und Studioaufnahmen durchstarten. Dabei ergeben sich natürlich auch neue Möglichkeiten für kreative Kontrolle, Authentizität und Empowerment: die meisten ihrer EPs hat Gartland selbst veröffentlicht, und auch bei diesem Album mischte sie bei den Produktionsprozessen ganz vorne mit. Nach eigener Aussage wurde sie zum Kontrollfreak, denn je mehr Einfluss sie auf die technischen Details und Effekte nehmen konnte, desto stolzer wurde sie auf das musikalische Gesamtpaket. Diese Neigung führt sie zurück auf ihre musikalischen Vorbilder: ihr Folk-Pop-Sound ist inspiriert von eigenwilligen Singer-Songwriterinnen mit cleveren, introspektiven Texten wie Kate Bush, Joni Mitchell, Fiona Apple, Imogen Heap oder Regina Spektor, die auch immer stark selbst in die Produktion ihrer eigenen Platten involviert waren.
Herausgekommen ist dabei ein schlagkräftiges und vor allem persönliches Album, das sich mit Themen beschäftigt wie Unsicherheit, Identität und Selbsterkenntnis in Zeiten von Social Media, Influencern und vermarkteter Authentizität. Woman On The Internet wurde 2020 während des Lockdowns geschrieben. Gartland, mittlerweile 25, erklärt, dass sie mit dem Album das Chaosgefühl ihrer Zwanziger einfangen wollte. Unsicherheiten werden dabei gebündelt auf die „Frau aus dem Internet“ projiziert: Eine Art Selbsthilfe-Guru-Karikatur, die auf Instagram oder ihrem Blog glücklich aussieht und nebulöse Lebensweisheiten generiert, wie eat better, laugh more oder love yourself – Ratschläge, die plakativ gut klingen, aber sich doch letztlich schnell als hohl und hauptsächlich Image- und Markt-wirksam erweisen können, während man sich verloren fühlt und nach Halt sucht. Einfache Antworten erklären selten wirklich viel – deshalb dreht sich das Album auch darum, mit Unvollkommenheit(en) leben zu lernen.
Der elegant-spröde Opener Things That I’ve Learned gibt direkt den Ton an: über spielerische Rhythmen, langsam einsetzende Instrumentalisierung und dynamisch ineinanderfließende Harmonien verteilt Gartland Anweisungen wie „Take up all the space even when you think you don’t deserve it, don’t compare your face to the other faces, it’s not worth it“, die sowohl ehrlich herzerwärmend als auch ironisch-abgeklärt verstanden werden können, als zweifelhafte Tipps der gesichtslosen Frau im Internet.
Diese Zweideutigkeit behält auch You’re Not Special, Babe bei: Während die poppige Uptempo-Nummer mit eingängiger Melodie sommerliche Stimmung verbreitet und vom Sound her auch als TV-Werbe-Spot-Soundtrack laufen könnte, geht der Text tiefer und stellt fest, dass es paradoxerweise nichts besonderes ist, sich allein zu fühlen und zu glauben, man passe nicht dazu. Die Lyrics sind gleichzeitig tröstend, da sie einem klarmachen, wie universell Selbstzweifel sind, und trotzdem spöttisch – wenn sie etwa selbstironisch singt: „Everybody wants to get right back to the chorus“ – und dann auch prompt tatsächlich die Bridge überspringt und direkt zum Refrain übergeht.
Die Lieder fangen verschiedenste Stimmungen ein und bewegen sich gekonnt zwischen Singer-Songwriter-Folk und Dream Pop mit gelegentlichen Electro- oder Alt-Rock-Einschlägen. Over Your Head wartet mit fast schon düsteren Synth-Klängen auf und braucht kurz, bis es in Gang kommt, erinnert aber dann mit seinem schleppenden Rhythmus, leisen Klavier-Zwischentönen, maschinellen Drums, E-Gitarren-Stakkatos und dem herzhaft-emotionalen Gesang im Refrain fast an die frühen Evanescence oder Linkin Park, und wagt sich auch an etwas plakative, aber trotzdem eindringliche Lyrics wie „Power is a game to win/Ego is a dangerous thing“.
Das introspektive Do You Mind? mit melancholischer Gitarre, sanftem Gesang und verträumten R’n’B-Beats lässt eine zerbrochene Beziehung Revue passieren und bietet kurzes Durchatmen, bevor Codependency über den/die HörerIn hinwegfegt. Hier vermischt sich funkensprühende Poppigkeit mit Punk, so als hätte Avril Lavigne mal wieder eine gute Idee gehabt – kein Wunder, schließlich war die kanadische Pop-Punk-Ikone auch eins der musikalischen Vorbilder von Gartland und inspirierte sie dazu, sich mit 11 Jahren selbst Gitarrespielen beizubringen. Im nachdenklichen, mit Echo- und Reverb-Effekten verstärkten Indie-Ohrwurm Pretending tritt dann wieder die Frau aus dem Internet in Erscheinung, als Vorbild, das sich Fragen nach seiner Tauglichkeit gefallen lassen muss. Wer macht hier eigentlich wem etwas vor: „Am I the only one pretending? Oh, who are you so afraid to be?“
Dass Gartland auf jeden Fall niemandem etwas vormachen oder sich verstellen muss, beweist dieses Album. Musikalisch ist die Platte gut produziert, abwechslungsreich und bietet genug Stoff für Indie-HörerInnen, Baroque Pop-LiebhaberInnen und Folk-Fans – und die Themen rund ums Erwachsenwerden, Image, Identität, Unsicherheit und die Fragen, wer man eigentlich ist und wer man sein will, regen zum Nachdenken an. Jede/r fühlt sich doch irgendwie ein bisschen allein und fragt sich, was eigentlich in der Ära von Twitter und Instagram noch echt und ehrlich ist – aber alles kein Grund zum Verzweifeln, den Anderen geht’s ja auch nicht anders.
Orla Gartland – Woman On The Internet
VÖ: 20. August 2021, New Friends
www.orlagartland.com
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