Foto-© Sebastian Madej
Dass eine Sache zwei Seiten haben kann, ist mit Ambivalenz nicht gemeint, solange aufgrund dessen kein innerer Konflikt entsteht. Leider waren es jedoch innere Konflikte, die beim Reeperbahn Festival 2021 eine zu große Präsenz für viele Besucher hatten, die dadurch die großartigen Live-Erlebnisse leider immer wieder etwas in den Schatten stellten und deshalb in diesem Nachbericht auch einen nicht unerheblichen Teil einnehmen. Aber erst einmal einige Fakten:
Vom 22. September bis 25. September 2021 fand in Hamburg das 16. Reeperbahn Festival mit ca. 300 Konzerten und verschiedensten Veranstaltungen aus den Bereichen Literatur, Kunst und Film statt. Es traten dabei 250 Acts aus 27 Ländern im Rahmen von 285 Shows in 35 Spielstätten auf. Der Veranstalter meldete 25.000 verkaufte Tickets. Zusätzlich nahmen am Konferenzprogramm ca. 2.000 Fachbesucher*innen statt.
Die Tatsache, dass der Veranstalter auch im Jahr #2 der Pandemie an der Ausrichtung des Festivals unter erschwerten Corona Bedingungen festhielt und das Reeperbahn Festival damit wahrscheinlich weltweit das einzige Festival war, dass trotz Corona nicht ausgefallen ist, stellt aus unserer Sicht eine besonders erwähnenswerte und überaus wichtige Tatsache dar, die sich auf der anderen Seite jedoch etwas relativiert, wenn man von den hohen staatlichen Förderungen dieser Veranstaltung hört. Nichtsdestotrotz haben sich die Veranstalter auch in diesem Jahr wieder sehr bemüht, ein Reeperbahn Festival trotz sämtlicher aktueller Corona-Verordnungen auf die Beine zu stellen. Dies ist in der Summe auch wieder gelungen. Die Abläufe funktionierten soweit, Zeitpläne wurden eingehalten und das eingesetzte Personal wusste mit viel Geduld und Freundlichkeit mit der gegebenen Situation umzugehen.
Der Veranstalter hat sich der Aufgabe gestellt ein Festival unter den aktuellen Auflagen auf die Beine zu stellen und wie bereits im Vorjahr sehr vieles richtig gemacht. Leider jedoch nicht alles. Wie im Nachgang zum Festival im Rahmen eines Statements veröffentlicht, wurde davon ausgegangen, dass die Venues mit 80% ihrer eigentlichen Kapazität bespielt werden könnten und zwei große Open-Air Bühnen wurden ins Programm genommen. Dies sollte ausreichen um 25.000 Ticketkäufern und 2.000 Fachbesucher*innen ein „normales“ Festival Erlebnis zu ermöglichen. Die aktuellen Corona-Verordnungen gepaart mit der für den Veranstalter unerwartet geringen Attraktivität der Open-Air Bühnen führte jedoch dazu, dass nur ein Bruchteil der ursprünglich geplanten Kapazität zur Verfügung stand bzw. die Verteilung der Besucher von den Plänen des Veranstalters stark abwich.
Die Folge waren lange Schlagen vor den Venues, stundenlanges Warten auf Konzerteinlass und Besucher, die an einigen Tagen nur zu einem einzigen Konzert Einlass fanden – wenn überhaupt! Und als ob diese Situation nicht bereits unangenehm genug gewesen wäre, waren es auch noch die 2.000 Fachbesucher*innen die durch bevorzugten Einlass oftmals die wenigen raren Plätze für sich beanspruchten und dadurch dem normalen Ticketkäufer oftmals „keine Chance“ ermöglichten. Aber auch diese Fachbesucher, und um das festzuhalten, dass Reeperbahn Festival ist eben an erster Stelle auch eine Branchenveranstaltung, hatten oftmals nicht die Chance, ausgewählte Konzerte zu besuchen. Und auch wenn es diesbezüglich dann am Samstag leichte Änderungen gab, konnte das die Stimmung im Publikum kaum noch retten.
Es standen sich in diesem Jahr also großartige Konzerterlebnisse von überaus glücklichen Musikern, die endlich wieder Clubkonzerte spielen konnten, einer insgesamt sehr negativen Publikumsstimmung gegenüber. Und selbst beim Publikum, das die oftmals wenigen freien Plätze in den Clubs ergattern konnte, schwang in vielen Gesprächen immer eine sehr negative Grundstimmung mit, die dann letztendlich auch auf die Fachbesucher*innen abfärbte. Ticketkäufer*innen fühlten sich schlecht, weil sie kaum Konzerte sehen konnten, Fachbesucher*innen fühlten sich schlecht, obwohl sie zwar mehr Konzerte sehen konnten, wohlwissentlich aber, dass sie zum Teil dafür verantwortlich waren, dass Menschen, die Stunden in der Schlange gewartet hatten, trotzdem keine Chance auf das lang ersehnte Live-Erlebnis hatten. So viel zur Ambivalenz der Dinge.
Der Veranstalter hat sich mittlerweile mehrfach öffentlich für die o.g. Fehleinschätzungen entschuldigt und die Tatsache zu solchen Fehlern zu stehen ist ein weiterer Punkt, der wichtig ist, wenn man ein Fazit zum Reeperbahn Festival 2021 zieht.
Denn was im Endeffekt festzuhalten ist, dass das Reeperbahn Festival sowohl 2020 als auch 2021 ein Festival mit im Vorwege absolut unbekannten und unberechenbaren Rahmenbedingungen veranstaltet hat. Aber sie haben es veranstaltet, sie haben es durchgezogen, sie haben dazu beigetragen, dass Hamburger Clubs wieder bespielt wurden, dass in der Musikbranche arbeitende wieder beschäftigt waren, dass Musiker aus vielen Ländern wieder auftreten konnten und sie haben, wenn auch einer geringeren Zahl als der ursprünglich geplanten endlich wieder Clubkonzerte ermöglicht. Sie haben das Risiko, dass nicht alles optimal läuft in Kauf genommen, um die Chance, vorstehendes zu ermöglichen, wahrzunehmen. Und doch bleibt haften, dass man mit dem Willen (oder vielleicht auch dem Zwang) des Geldverdienens, ohne finale Bestätigung der Kapazität am Ende des Tages auf dem Rücken der Besucher – egal ob aus der Branche (denn auch diese bezahlen für ihre Tickets teils hohe und in diesem Jahr sogar noch mal um eine ordentliche Booking-Fee gestiegene Preise) oder einfach als normaler Gast – zu viele Tickets verkauft hat.
Doch damit genug davon! Denn natürlich wollen wir auch noch auf unsere musikalischen Höhepunkte des Reeperbahn Festival 2021 eingehen. Wir haben diese in zwei Facebook Galerien und auf Instagram bereits präsentiert.
Hervorzuheben sind in diesem Jahr die großartigen Auftritte der bereits bekannteren Musiker im Hamburger Michel. Hier waren es insbesondere William Fitzsimmons, Lambert und Die Höchste Eisenbahn die für außerordentliche Konzerterlebnisse verantwortlich waren. Der Michel hat sich wieder einmal als Location Nr.1 für die „schönen“ Konzertmomente erwiesen. Und auch die in Deutschland noch etwas unbekanntere Anna Leone aus Schweden sorgte mit ihrem Konzert im Michel für eines der Festivalhighlights. Das Gegenstück zum Michel ist sicherlich das Molotow, die Location Nr.1 für die etwas „dreckigen“ aber trotzdem genauso schönen Konzertmomente. Hier waren es Talkshow und The Clockworks aus Großbritannien oder auch Remme aus den Niederlanden, die zu unseren absoluten Höhepunkten zählten.
Aber auch die Auftritte von Mavi Phoenix, Jupiter Jones, Slow Down Molasses, Lola Young oder dem Next Big Thing aus Norwegen Hedda Mae machten uns glücklich, genauso wie der Auftritt von Muff Potter, die das Festival für uns beendeten. Zwar nicht vorm Molotow sitzend, sondern vor der Arte Festival Stage. Auch so eine ambivalente Situation. Aber eine sehr schöne.
Wir freuen uns auf das Reeperbahn Festival 2022.