Noch immer leidet Brasilien unter der Corona-Pandemie, der Amazonas-Regenwald brennt in nie dagewesenem Ausmaß und im Präsidentenpalast sitzt ein rechtsextremer Ex-Militär, der kräftig zu diesen und weiteren Horrorszenarien beiträgt. Wer es kurz machen will, könnte also sagen: Birmania, das jüngste Projekt des brasilianischen Musikers Claudio Szynkier, kommt der schwer erträglichen Realität beklemmend nah.
Und das stimmt zu guten Teilen auch: Wenn etwa der Einstieg des Albums so klingt, als sei man aufgekratzt in die Zeitlupe eines Schönberg-Konzerts gestolpert, die nur von elektronischen Fragmenten durchteilt wird – dann hat Szynkier, der unter dem Alter Ego Babe, Terror letztes Jahr von Guardian und Pitchfork Jahresbestenplatzierungen einheimste, auch als Zpell Hologos ganze Arbeit geleistet.
Dabei ist das erklärte Ziel des Produzenten aus São Paulo keine Realitätsbeschreibung, sondern das genaue Gegenteil: Während des laufenden Jahres begab Szynkier sich quer durch Raum und Zeit auf die Suche nach Alternativen zum Jetzt. Birmania sollte, anders als seine Vorgänger, keine apokalyptischen Zukunftsvisionen, sondern die Sehnsucht nach einem Brasilien der Vergangenheit verkörpern. Nicht das des Kolonialismus oder der Militärdiktaturen – diese Rückwärtsgewandheit besorgt die Regierung Bolsonaro schon allein – sondern eines Brasiliens, wie es hätte sein können, in einer nun verlorenen Idee der Moderne.
Das Ergebnis: Rastlos mäandernde Streicher, gestaucht und gestreckt in der Zeit, verheißungsvoll glitzernde Synthesizer-Arpeggios und gedämpfte Klavierakkorde, die flüchtige Momente der Wärme bieten. Klarer Fall von Hauntologie, attestieren kulturwissenschaftliche Auskenner*innen da seufzend. Die Geister nie realisierter Zukünfte, die von Burial bis Joy Division durch unsere Utopie-arme Gegenwart spuken, haben sich auch bei Szynkier eingenistet. Doch der Patient ist nicht verloren: Szynkier zeigt sich hoffnungsvoll, dass die eingangs geschilderte Gegenwart nur einen Schwebezustand zwischen Autoritarismus und einem Aufbruch von den Straßen markiert. Und tatsächlich, zum Ende der sechs Tracks klingt Birmania versöhnlich und belohnt die strapazierten Nerven mit beinahe Eno-haft beruhigenden Passagen.
Mit seinem ersten Album als Zpell Hologos hat Szynkier nicht etwa den Soundtrack der Zehntausenden, die in den vergangenen Tagen gegen Bolsonaro und seine Corona-Politik auf die Straße gingen, geliefert. Aber er hat sich musikalisch auf die Suche nach Zukünften gemacht, wo alle Auswege versperrt scheinen – und ist fündig geworden.
Zpell Hologos – Birmania
VÖ: 04. Oktober 2021
www.zpellhologos.bandcamp.com/releases
www.facebook.com/Zpell-Hologos-109181864772886