Stefan Haller erzählt mit seinem Comic Schattenmutter die Geschichte seiner verstorbenen Mutter, die zu Lebzeiten mit psychischen Erkrankungen und deren Stigmatisierung zu kämpfen hatte. Mit Hilfe von unzähligen Tagebüchern und Aufzeichnungen der Erkrankten, mit persönlichen Gesprächen zwischen Familie und Freunden, sowie intensiven Gedankengängen macht sich Stefan auf die Suche nach Erklärungen für das Verhalten seiner Mutter. Damit stellt er sich einer schier unmöglichen Aufgabe und lernt bei diesem Versuch nicht nur viel über seine Erzeugerin, sondern auch über seine Familie, sich selber und psychische Krankheiten im Allgemeinen.
Während seiner Recherche werden die Beweggründe des Autors nie explizit erwähnt, der Ansatz eines Erklärungsversuches bleibt trotz seiner persönlichen Betroffenheit überaus sachlich. Niemals werden von Stefan Vorwürfe oder Anklagen erhoben und obwohl große Emotionen bewusst ausbleiben, entwickelt man als Leser eine besondere Form der Empathie. Diese konzentriert sich nicht auf einzelne Protagonisten, sondern auf komplette Familien und soziale Gefüge, die unter den Folgen psychischer Krankheiten leiden. In der Interpretation der Fakten muss jedoch ein wenig Sensibilität an den Tag gelegt werden: Sowohl offizielle Definitionen, wie die Schizophrenie nach ICD-10 der Weltgesundheitsorganisation, als auch persönliche Deutungen sind im knalligen Primärrot abgebildet. Durch den starken Kontrast zu der ansonsten monochromen Buchgestaltung entsteht hier eine undurchsichtige Grauzone, die persönliche Erkenntnisse mit wissenschaftlichen Befunden vereint. Gerade durch den sachlichen Ansatz ist hier Vorsicht geboten, den psychische Erkrankungen sind in ihrer Auswirkung auf Individuen häufig anders geartet.
Auf knapp 200 Seiten erzählt Schattenmutter von der langen Suche nach Erleichterung, Akzeptanz und dem Versuch mit einer psychischen Erkrankung zu leben. Dabei sind Format, Präsentation und Haptik, wie von Edition Moderne gewohnt, herausragend und trösten ein wenig über die doch beschränkten illustratorischen Fähigkeiten von Stefan Haller hinweg. “Ich wundere mich, wie mächtig ich bei dir immer noch bin.”, ist ein Zitat aus einem Briefwechsel zwischen Stefan und seiner Mutter und zeigt deutlich auf, wie wichtig die Thematik und deren Verbreitung auch heute noch ist.
Stefan Haller – Schattenmutter
VÖ: 5. Oktober 2021, Edition Moderne
180 Seiten, Hardcover
ISBN 978-3-03731-221-6