Foto-© Alexandra Waespi
Da sind wir wieder, frisch gemästet aus dem Winter- und Weihnachtsschlaf und gehen direkt mit einem kulturellen Rückblick auf das vergangene Jahr in das mit viel Hoffnung verbundene Jahr 2022! Dazu haben wir als Redaktion 2021 Revue passieren lassen und präsentieren euch nun nach und nach unsere liebsten Alben, Filme, Serien und Songs des Jahres – beginnend heute mit dem Flaggschiff des Jahresrückblicks, unseren liebsten Alben des Jahres!
50. Julien Baker – Little Oblivions
„Es gibt so viele Verhaltensweisen, die wir benutzen, um unser Unbehagen auf ungesunde Weise nach außen zu tragen“, sagt Julien Baker über ihren Song Faith Healer und geht mit dieser Aussage direkt auf das Thema Sucht ein. Dies ist allerdings nur eines der Themen, das sie auf ihrem neuen Album Little Oblivions behandelte. Doch waren ihre vorherigen Werke eher in einem minimalistisch-instrumentierten Indie-Kammerpop einzuordnen, bedient sie sich auf ihrem dritten Studioalbum an einem vollen und breitwandigen Band-Sound. Mit Little Oblivions hat Baker damit erneut bewiesen, dass sie sich selbst immer weiterentwickelt und dass sie trotz der Umstände niemals gewillt ist aufzugeben. Sie spricht Themen an, die nicht nur sie beschäftigen und untermalt diese mit der dazu passenden Stimmung. Und verbreitet obendrauf eine wichtige Botschaft: Seit nett zueinander, aber vor allem seit nett zu euch selbst.
49. DARKSIDE – Spiral
Stampfende, vertrackte Beats, Nicolas Jaars außergewöhnliche Stimme und Dave Harringtons psychedelische Gitarrenklänge geben Spiral den so authentischen DARKSIDE Sound, den Fans seit 2013 mit dem grandiosen Album Psychic kennen und schätzen gelernt haben. 2021 gab es mit Spiral einen 9-Song-Nachschlag. Jaars Spezialität keinen Ton dem Zufall zu überlassen macht sich auch darauf bemerkbar. Er lässt sie erst leise an unser Ohr heranschleichen bis sie sich bemerkbar machen und spielt mit Alltagsgeräuschen, die dem Album ein futuristisches Flair verleihen. Harrington füllt die Lücken des Albums mit spannenden, jazzigen und gleichzeitig rockigen Improvisationseinlagen. Spiral entfaltet sich langsam und verträumt. Mehrmaliges Hören tut den komplexen Liedern gut und auch das richtige Mindset schadet nicht.
48. Joy Crookes – Skin
Ganze fünf Jahre arbeitete Joy Crookes mit ihrem Team an den Songs ihres Debütalbums Skin, die sie auch Co-produziert hat. Sie wird auf ihren 13 Songs genauso politisch wie persönlich und strahlt ungeheure Stärke aus. Die Britin mit Wurzeln aus Irland und Bangladesch erforscht Situationen durch Musik. Es helfe ihr Lyrics zu schreiben, wenn sie ihre persönliche Gefühlswelt aufdeckt und niederschreibt, denn professionelles Schreiben habe sie nie gelernt. Ihre warme Stimmfarbe wirkt wie ein Instrument innerhalb ihrer vielschichtigen Beats. Man könnte dem Album unterstellen, für jeden wartenden Fan einen oder mehrere neue Lieblingssongs bereitzustellen. Also falls ihr nicht schon einen habt, dann empfehlen wir euch spätestens jetzt einen auszusuchen.
47. Sam Fender – Seventeen Going Under
Sam Fender kommt aus North Shields, einer kleinen Stadt im Nordosten Englands. Seine Kindheit war behütet, bis seine Eltern sich trennten und seine Mutter so krank wurde, dass sie nicht mehr arbeiten konnte. Plötzlich fand er sich in der Situation wieder, um das Existenz-Minimum kämpfen zu müssen. Wie er in einem Interview verriet, war seine Jugend von der Angst beherrscht nichts aus sich zu machen. Er fing an in Pubs zu arbeiten und coverte für gerade genug Geld bekannte Lieder. Bis ihn der Manager von Ben Howard entdeckte. Von dort an ging es schnell bergauf. Jetzt ist er mit Seventeen Going Under zurück und erzählt auf 11 Tracks von der Zeit, bevor er berühmt wurde. Seine Vocals sind akzentuiert und schneidend und seine Texte hoch sensibel. Zwischen wunderbaren Saxofon-Einlagen und Gitarren-Soli erstrecken sich die hymnischen Tracks wie Seventeen Going Under und Getting Started zu wütenden Rocksongs wie Aye. Sein beeindruckender Stimmumfang sowie das Gefühl für Melodie und Rhythmus machen ihn und seine Band zum Must-Hear, umso mehr da man dem gefeierten Newcomer wohl nicht unbedingt solch ein erwachsenes Zweitwerk zugetraut hätte.
46. James Blake – Friends That Break Your Heart
James Blake könnte man als sichere Bank für großes Hörvergnügen bezeichnen, aber diese Aussage würde dem bedachten Londoner bestimmt nicht sonderlich gut gefallen. Seine flexible Stimme und vor allem die schwebende Kopfstimme hat Blake mittlerweile perfektioniert und harmonisiert sie atemberaubend mit elektronischen Melodien. Dazu ist und bleibt er ein Exempel für einen Mann, der sich gegen toxische Maskulinität wehrt und sich sein Recht auf Emotionen und Zärtlichkeit nie hat absprechen lassen. Mit poetischen und vollkommen offenlegenden Texten schafft er bei Friends That Break Your Heart einen Raum, indem sich Fans aufgehoben und gesehen fühlen und gleichzeitig noch grandiose Musik genießen können.
45. Lump – Animal
Die Masterminds Laura Marling und Mike Lindsey wollten ein Ventil, eine musikalische Leerstelle, die sie füllen konnten, wie immer sie wollten – unabhängig ihres bisherigen Schaffenskatalogs als Musiker*in. Also kreierten sie ein haariges Wesen, einen Anarcho, quasi den Alf des progressiven Pop, „half-cute and half dark and creepy”, wie sie ihn selbst beschreiben: Lump! Dabei ist den beiden Musikern wichtig, genug Distanz zwischen einander zu lassen – die beiden kenne sich nur so gut wie nötig – und das soll auch so bleiben. Ihre Nähe besteht aus den Klangwelten, die sie erschaffen, derer sie habhaft werden, weil sie sich nur auf ihre Instinkte verlassen. Genau wie auf dem Lump-Debüt löst sich Lindsey bei Animal von konservativen Instrumentierungen. Atmen im Stakkato, unausweichliche Basssaiten, verwaschene Dialogfragmente oder ein Harmonizer, H949 mit Namen (den man offenbar kennen sollte, wenn man entweder David Bowie Fan, Sound-Nerd oder einfach beides ist, wie Lindsey), werden verwoben mit Klarinette, Gitarre, Geigen und Synthies. Marlings Stimme und Lyrics stehen dabei im Prinzip gleichwertig neben den Instrumenten. Vermutlich kann man das ganze Album am besten unter Avantgarde-Pop zusammenfassen, oder man scheisst auf Begriffsfindungen und gibt sich seinem eigenen, inneren Lump hin – gesetzt, dass man sich nicht allzu sehr vor dem fürchtet, was da so in einem zu finden ist.
44. Aaron Frazer – Introducing…
Der in Baltimore aufgewachsene und in Brooklyn lebende Songwriter Aaron Frazer hat viele musikalische Talente vorzuweisen. Bekannt als Schlagzeuger und Co-Leadsinger von Durand Jones & The Indications, ging Frazer in 2021 einen eigenen entscheidenden Schritt weiter und veröffentlicht mit Introducing… sein Solo-Debüt. Schnell wurde mit den ersten Tönen der Songs klar, was für ein einzigartiges Projekt hier erklingt – eine zeitlos und zugleich moderne Mischung aus 70er-Jahre-Soul, Jazz und viel sanftem Retro-Gefühl, passenderweise von Black Keys-Mitglied Dan Auerbach in Nashville mit einer Gruppe von legendären Musikern der Memphis Boys, aus dem Daptone/Big Crown Records-Universum, sowie Perkussionist Sam Bacco aufgenommen. Introducing… bringt mit viel Charm und einer einzigartigen Stimme das beste aus Gegenwart und Musikgeschichte zusammen – das Ergebnis ist zeitlos.
43. Grandbrothers – All the Unknown
Aufbauend auf dem Konzertflügel haben Grandbrothers mit ihrem neuen Album All The Unknown Musik geschaffen, die wie tiefe Atemzüge wirkt. Zwischen Leichtigkeit und Schwere beherrschen die Kompositionen von Lukas Vogel und Erol Sarp den Raum. Dabei steht im Zentrum ihrer Musik keinesfalls die klassische Komponente. Vielmehr experimentieren sie mit Elektro-Beats, folkloristischen Melodien, Hip-Hop und letztendlich dem Gefühl für Atmosphäre. Das alles gelingt dem türkisch-deutsch-schweizerischen Duo mit einem präparierten Konzertflügel. Erol Sarp spielt ausschließlich Klavier, die Töne der geschaffenen Lieder haben ihren Ursprung also nur im Klavier, jedoch an vielen Orten des Klaviers. Vogel nimmt diese Klänge und Samples mithilfe einer von ihm gebauten Mechanik auf, sammelt sie, extrahiert Teile, verzerrt andere und formt so eine riesige Klangwelt. Das Ergebnis ist ein gelungenes Gesamtkunstwerk, das zwischen Tradition und Neuentdeckung existiert. Es ist in Bewegung, entwickelt sich konstant weiter und behält trotzdem die vollkommende Harmonie bei.
42. Sufjan Stevens & Angelo De Augustine – A Beginner‘s Mind
Die beiden Songwriter und Freunde Sufjan Stevens und Angelo De Augustine haben nach mehreren kleineren Kooperationen den Sprung ins gemeinsame Album gewagt – dafür haben sie sich einen Monat lang mit einem Karton Filme in Upstate New York verkrochen, fingen jeden Tag mit einem Film an und arbeiteten daraufhin gemeinsam an Songs. Natürlich hielten die Filme nach kurzer Zeit schon Einzug in die Musik – so wirkten sich zum Beispiel die beiden Horror-Klassiker Das Schweigen der Lämmer und Die Nacht der lebenden Toten auf die Singles Cimmerian Shade und You Give Death A Bad Name aus. Bei all den blutigen Verweisen, ist das Album der beiden Songwriter-Schwergewichte jedoch ein gewohnter Wohlklang!
41. Bess Atwell – Already, Always
Die Britin Bess Atwell wuchs in einer kreativen Familie von Songwritern und Künstlern im ländlichen England auf, erinnert mal an Marika Hackman, mal an Julia Jacklin und veröffentlichte 2021 ihr Debütalbum Already, Always auf dem Lucy Rose-Label Real Kind Records. Darauf stellt sie mehr Fragen als Antworten zu geben, gibt sich ihren Unsicherheiten hin, referiert Virginia Woolfs Mrs. Dalloway, klingt nach Daughter oder Lana Del Ray und gewinnt mit jedem Geständnis mehr die Oberhand, während sie zwischen Herzschmerz und dem Wunsch nach Sicherheit taumelt. Ein großes, kleines Album und ein absoluter Geheimtipp für Liebhaber von Songwriter-Rohdiamanten!