SHARON VAN ETTEN – We’ve Been Going About This All Wrong


Foto-© Michael Schmelling

Up the whole night
Right before the sun takes everything

(Sharon Van Etten – Anything)

Es ist verblüffend, wie viel Symbolik in einer neuen Frisur stecken kann. Menschen lassen sich die Haare schneiden, wenn sie von einem langjährigen Liebespartner verlassen wurden und ihr neues Selbstbild anschließend auf eigenverantwortlichen Veränderungen aufbauen wollen, oder wenn sie in ihrem Leben so verzweifelt nach einem Akt der Rebellion suchen, dass der Irokesenschnitt irgendwann unausweichlich ist. Oder, wie im Falle der 41-jährigen Songwriterin Sharon Van Etten, weil man sein Leben lang das Gefühl hatte, sich hinter langen, dunklen Wellen verstecken zu müssen und sich nun von der schützenden Haarpracht verabschieden will, um selbstbewusst nach vorne zu schauen – egal, wie beschissen die Zukunft auch aussehen mag.

Dass die Chancen auf ein sorgenfreies Morgen eher schlecht aussehen, kann Van Etten (verständlicherweise) nur schwer ignorieren. Während den Homestudio-Arbeiten an ihrem sechsten Studioalbum We’ve Been Going About This All Wrong, das die Sängerin in ihrer neuen Heimatstadt Los Angeles aufgenommen hat, wurde sie Zeugin einer globalen Pandemie (“Been a while since we’ve touched”, heißt es im Opener) und von verheerenden Waldbränden. Optimismus in einer zerfallenden Welt fällt schwer. “Where will we be when our world is done?”, fragt sie voller Tragik folgerichtig im Song Darkish, der einzigen Akustik-Ballade auf dem sonst ziemlich ausgeschmückten Album. Kaum ein Track ist sich zu schade, alle Register zu ziehen und sich immer weiter zu öffnen, während Van Ettens beeindruckende Gesangskünste so klar zum Vorschein kommen wie nie zuvor. In Born stapeln sich füllende Synth-Flächen auf orchestralen Streichern und klingen alles andere als bescheiden. Denn wie auch immer die Apokalypse ablaufen wird, dramatisch wird sie definitiv.

Aufgeben ist natürlich keine Option. “I’m looking for a way”, singt die Musikerin in Darkness Fades und wird von einem pompösen Arrangement unterlegt (vor allem der Bassist Devin Hoff hat für seine Ergänzungen eine dicke Umarmung verdient). Van Etten sucht nach einer Möglichkeit, etwas Licht in die Dunkelheit zu lassen – allein schon für ihr Kind: Im Song Home to Me, den sie ihrem Sohn gewidmet hat, geht die Künstlerin auf die Schwierigkeiten ein, ihren Beruf mit einem alltäglichen Familienleben in Einklang zu bringen (“I need my job, please don’t hold that against me”) und scheint ihren Nachwuchs ebenso sehr zu brauchen wie umgekehrt (“You are my life”). Früher erzählte Sharon Van Etten vor allem von toxischen Beziehungen und traumatischem Herzschmerz, wohingegen sie heute über eine andere Form von Liebe singt – eine, die überlebenswichtig sein kann.

Die schimmernde, aufgeladene Musik auf We’ve Been Going About This All Wrong hat nur noch teilweise etwas mit dem intimen Rohzustand ihres Debütalbums Because I Was in Love und dem genügsamen Folk-Rock der darauffolgenden drei Werke zu tun. Die Springsteen/Post-Punk- Mischung ihrer letzten Platte Remind Me Tomorrow scheint wiederum häufiger durch, vor allem im wummernden Highlight Headspace und dem unwiderstehlichen Indie-Hit Mistakes. “Even when I make a mistake, turns out it’s great”, behauptet Van Etten darin stolz. Eine sehr gesunde Einstellung, die sich ausgezahlt hat.

Sharon Van Etten – We’ve Been Going About This All Wrong
VÖ: 6. Mai 2022, Jagjaguwar
www.sharonvanetten.com
www.facebook.com/SharonVanEtten

Sharon Van Etten Tour:
05.06.22 München, Muffathalle
07.06.22 Hamburg, Markthalle
13.06.22 Berlin, Metropol

YouTube video

Lennart Brauwers

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