Foto-© Richard Dumas
Yann Tiersen bedarf keiner Vorstellung mehr – egal wo sein Name auftaucht, sind ihm längst die ersten Takte der beiden Filmmusiken vorausgeeilt, die seiner inzwischen dreißigjährigen Karriere als Solo-Künstler einen internationalen Schub gegeben haben. Und so ungerecht es ist, ihn auf diese ersten Takte zu reduzieren: Die an Philipp Glass‘ Minimal Music erinnernden Repetitionen und Variationen haben es, ergänzt um elektronisches Beiwerk, selbst noch auf sein erst letzten Sommer veröffentlichtes Album Kerber geschafft. Kein volles Jahr später steht jetzt – entstanden bei den Vorbereitungen auf das Berliner Synthesizer-Festival Superbooth – etwas überraschend ein Album ins Haus, dass sich so entschieden von den hypnotischen Klavierpassagen abwenden soll wie zuletzt die rund zehn Jahre zurückliegenden Alben Dust Lane (2011) und The Lighthouse (2013).
Waren die Songs des Vorgängers alle nach Orten der bretonischen 800-Seelen-Insel benannt, auf der sich Tiersen eine ehemalige Disko zum Heimstudio umgebaut hat, wird es dieses Mal kryptisch statt heimatverbunden: Auf der Google-Recherche weist uns der Titelsong und Opener 11 5 18 2 5 18 noch wahlweise den Weg nach Westafrika oder zum Kauf von Traktorreifen – keine besonders viel-versprechende Spur. Auch beim Hören bleiben die ersten Minuten noch vage, locken mit vertrauten Klangschichten, über die sich die erste Synthesizer-Linie ins Klangbild schiebt und Glitches irren. Erst als es nach einem Drittel der gut 11 Minuten anfängt zu zucken und pulsieren, wird klar, dass Tiersen sich dieses Mal anschickt, die gewohnten Pfade zu verlassen.
Eine eingeschobene Klavierpassage im Signature-Sound winkt zum Abschied, dann treibt die Bass-Drum die Hörer*innen endgültig heraus aus der melancholischen Corona-Introspektion des Vorgängers und geradewegs in neue Klangwelten hinein: Es schimmert und zirpt, flackert und stampft, als hätte der Multiinstrumentalist auf seinen letzten zwölf Alben nie etwas anderes getan. Rastlos geht es auf 11 5 18. 1 12. 12 15 3 8 mit überschnappenden Arpeggi weiter, die im nächsten Track mit rhythmischen Pieptönen in mensch-maschineller Präzision neu ausgerichtet werden.
Luftig-leichte Passagen, verlässlich in die routiniert verwobenen Loops eingeflochten, heben die Songs wohltuend von grimmigen Techno-Referenzen wie übertrieben ernster Achtsamkeits-Muzak ab. Die großen melodischen Gesten, von denen Tiersen abseits ausgeklügelter Minimalismen nicht lassen kann, finden sich in neuem Gewand wieder: Das letzte Drittel von 3 8 1 16 20 5 18. 14 9 14 5 20 5 5 14 imitiert mit Anleihen an Spinett und singender Säge an das akustische Instrumentarium der 90er, die Vocal-Samples der Tracks stammen von seinem 2011er Album Dust Lane und schließlich darf nach und nach – mal wabernd, mal verhackstückelt – auch das zwischenzeitlich ganz verbannte Klavier zurückkehren. Am Ende steht mit 13 1 18 25 ( 6 5 1 20. 17 21 9 14 17 21 9 19) ein Rework seines 2005 veröffentlichten Songs Mary, auf dem Tiersens Frau Émilie aka OUINQUIS (die übrigens gerade ihr neues Album Seim veröffentlicht hat) folgerichtig fragt: „Do you recognize me / Here on this sleeper train?“
Bis zur Unkenntlichkeit hat sich Tiersen nicht gewandelt – auch wenn seine neue Verkleidung am ehesten geeignet ist, sich endgültig aus dem Griff der Amélie zu winden. Ohne die Ahnungen von Beschwingtheit und Dramatik, Herzschmerz und Tristesse abzuwerfen, die ihn in so vielen Köpfen untrennbar mit der Leinwand verbinden – und gleichzeitig seine Qualität als Komponist und Arrangeur beweisen – ist ihm auf 11 5 18 2 5 18 eine kleine, vielleicht überfällige Neuerfindung gelungen.
Yann Tiersen – 11 5 18 2 5 18
VÖ: 10. Juni 2022, Mute
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