MEINE STUNDEN MIT LEO – Filmkritik


Foto-© Wild Bunch Germany

Nancy Stokes (Emma Thompson), ehemalige Religionslehrerin und seit einem Jahr verwitwet, heuert einen Sexarbeiter an um endlich all das nachzuholen, was sie in ihrem sehr konservativen Leben verpasst hat. Zum Thema Sexualität hat ihr niemals jemand etwas erklärt; vielleicht gerade genug zu Fortpflanzungszwecken. Vor dem Rest hat Frau sich zu schämen und Mann hat wahrscheinlich noch weniger Ahnung. Wie es sich gehört, hat sie jungfräulich geheiratet, bis der Tod sie schied. Nun, mit dem 28 Jahre alten Leo Grande (Daryl McCormack), fängt die ü62-Jährige quasi von Null an. Gemeinsam, und immer wieder im selben Hotelzimmer, tasten sich die beiden in Richtung des großen Ziels: ihren ersten Orgasmus. Dabei muss sie feststellen, dass sich eine sexuelle Begegnung zwischen zwei Menschen nicht auf eine Transaktion, den Akt an sich oder eine Todo-Liste reduzieren lässt, sondern immer in einen sozialen Kontext eingebettet ist, wenn man etwas nachhaltiges erleben möchte.

Was haben wir getan, um Emma Thompson zu verdienen? Nicht nur bringt sie ihre unfehlbare Erfahrung als Schauspielerin vor die Kamera, sondern durch die gemeinsame Überarbeitung der zweiten Hälfte des Drehbuchs mit dessen Autorin, der genialen britischen Komödiantin Katy Brand, auch ihre Oscar-prämiertes Können als Drehbuchautorin. Regisseurin Sophie Hyde (Animals & 52 Sundays) nimmt sich nicht zum ersten Mal Themen an, die dringend normalisiert werden müssen. Sie hat es geschafft, das für diese Geschichte nötige Vertrauen zwischen Thompson und McCormack herzustellen. Er spielt den Sexarbeiter mit dem Pseudonym Leo sehr souverän.

Leo kann mit seinem Charme und Selbstbewusstsein zunächst nicht gegen Nancys Angst, Zweifel und Lehrerin-Persona ankommen. Zwischen den sexuellen Annäherungen erzählt er also unter anderem von seiner Arbeit und seinen anderen Kunden. Er zeichnet eine Welt, in der viel offener mit sexuellen Bedürfnissen umgegangen wird, insbesondere von den Menschen, die sie aus verschiedenen Gründen nicht ohne Sexarbeiter wie ihn befriedigen können. Laut Nancy sollte das, was Leo macht, eine von Krankenkassen bezahlte Dienstleistung sein. Dabei wird die dunkle Seite von Sexarbeit nur am Rande angesprochen.

Katy Brand zeigt uns ein Stück weit eine Utopie, damit wir sehen, wie es sein könnte, wenn auch nicht, wie wir die Welt dorthin bringen können. Vielleicht reicht es zunächst, zu realisieren, dass wir uns selbst die Erlaubnis geben müssen, unseren Körper so zu akzeptieren, wie er ist, und womöglich ungeahnte Kapazitäten hat, uns Vergnügen zu bereiten, vor denen wir uns nicht schämen müssen. Wie weit Nancy sich von den Zwängen einer patriarchalischen Vorstellung, wie eine Frau ihre Sexualität erfahren darf, befreien kann, bleibt bis zum Schluss spannend.

Good Luck to You, Leo Grande (GB 2022)
Regie: Sophie Hyde
Besetzung: Emma Thompson, Daryl McCormack, Isabella Laughland
Kinostart: 14. Juli 2022, Wild Bunch

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