Foto-© Konstantin Kondrukhov / Flow Festival
Entspannte 24 Grad, ein laues Lüftchen und reichlich kühles finnisches Bier. Für ein Festival im Hochsommer ist das Flow Festival in Helsinki ziemlicher Luxus. 2022 ging das Musikfest in der finnischen Hauptstadt nach einer dreijährigen Zwangspause endlich in eine neue Runde und wir waren live vor Ort. Mit gerade einmal 30.000 Besucher:innen ist das Flow im Verhältnis zu deutschen Festivals wie zum Beispiel dem Hurricane (ca. 80.000 Besucher:innen) ein recht überschaubares Event. Gerade in Betracht dieser Tatsache konnte Musikliebhaber:innen beim diesjährigen Line-up wohl nur die Kinnlade runterfallen.
Das musikalische Line-up, zu dem auch zahlreiche DJs wie Acid Arab oder The Blessed Madonna gehörten, war auch 2022 wieder bewusst divers gestaltet. Mit dabei waren große Namen wie Florence + the Machine, Bikini Kill, Nick Cave and the Bad Seeds, Burna Boy und Gorillaz, aber auch viele finnische Acts wie Ibe oder Vesta, die abseits vom englischsprachigen Mainstream so richtig abgerissen haben.
Das Festival in unmittelbarer Nähe der baltischen Küste legte zudem viel Wert darauf, so umweltfreundlich und nachhaltig zu agieren wie möglich. Neben einem ausgedehnten Pfand- und Recyclingsystem wurde auch bei der Verpflegung auf niedrige CO₂-Emissionen geachtet. Fleisch flog deshalb komplett von der Speisekarte. Wer jetzt denkt, dass das Flow damit wohl zu einem der weniger befriedigenden Festivals geworden ist, liegt komplett falsch.
Während gerade Veganer:innen zum Beispiel bei Rock im Park seit Jahrzehnten dieselben vegetarischen Frühlingsrollen und Nudeln mit Tomatensauce aufgetischt bekommen, hat sich das finnische Festival selbst übertroffen. Veganes Pfeffersteak, Bao Buns, Poke Bowls, fleischlose Kimchi Burger und Churros mit veganem Kaviar haben sich die Festivalgänger:innen in Helsinki genüsslich einverleibt.
Doch nun zurück zur Musik: Los ging es am ersten Tag des Festivals mit reichlich finnischer Power. Erika Vikaman brachte das Publikum der Red Stage mit ihrem schlageresquen 80s-Pop schon am späten Nachmittag komplett zum Ausrasten. Sprachbarriere? Bei so viel Energy absolut kein Problem. Auch der Nachwuchsrapper Ibe aus Helsinki legte mit seinen 23 Jahren eine Performance hin, die unsere deutschen Ohren und Augen zum Staunen gebracht hat. Sigrid brachte dagegen norwegischen Skandi-Pop in den Mix, bevor die Main Stage musikalisch eine 180-Grad-Drehung machte.
Mit dem nigerianischen Afrobeats-Phänomen Burna Boy hat das Flow einen Geniestreich gelandet. Normalerweise finden Afrobeats in der Szene der Mainstream-Festivals meist gar keine Beachtung, Fans müssen vor allem zu speziellen Events pilgern. Dabei sollten viel mehr Booker sich die Stars des Genres für ihre Festivals unter den Nagel reißen. Denn bei keinem Act an diesem Wochenende herrschte so ausgelassene Stimmung wie bei Burna Boy.
Die wurde fast getrübt von dem Headliner des Abends: Gorillaz. Obwohl die Show der britischen Band eine der größten Produktionen war, die das Flow je gesehen hat, und eine rein musikalisch großartige Performance abgeliefert wurde, fehlte doch das gewisse Etwas. Oder vielleicht war es auch der Personenkult um Frontman Damon Albarn, den selbiger auf der Bühne etwas zu sehr raushängen ließ, der uns am Ende etwas unbefriedigt zurückließ. Zum Abschluss des Abends wurde sowohl von Trapwave-Rapper M Huncho als auch der Kult-DJane The Blessed Madonna noch bis in die Nacht Tanzbares geboten.
Tag 2 ging musikalisch genauso divers weiter, wie das Festival am Freitag gestartet war. Die finnische Vesta brachte mit ihrer experimentellen Pop, verträumten Visuals und stimmlichen Höchstleistungen nicht nur ihr Landsleute zum Staunen. Die ebenfalls finnische Rapperin Yeboyah ist noch relativ unbekannt und schon nach zwei Songs stellte sich uns die Frage, woran das wohl liegt. Auf der kleinsten der drei Main Stages legte sie eine Performance hin, die sich absolut gewaschen hat. Samt Choreo und Gospelchor. Bei ihrer Show bat sich zudem besonders sonst benachteiligte Minderheiten wie trans Personen und POC-Fans in die ersten Reihen, um gemeinsam mit ihr abzufeiern. Ein tolles Zeichen, das auch beim Publikum gut ankam.
Wer nicht feiern, sondern komplett ausrasten und rumschreien wollte, machte sich am Abend auf den Weg zur amerikanischen Band Bikini Kill. Die Band, die in den 90ern maßgeblich an der Riot-Grrrl–Bewegung beteiligt war, legte einen beeindruckenden Auftritt hin. Nach fast jedem Song tauschten die Bandmitglieder die Positionen und Instrumente. So viel musikalische Skills auf einem Fleck haben wir selten gesehen, außerdem ist es wahnsinnig empowernd als Frau eine komplett weibliche Punk-Band in ihren 50ern so abliefern zu sehen.
Generell stand der Samstag ganz im Zeichen großartiger Künstlerinnen. Die gerade einmal 19-jährige und überaus talentierte Holly Humberstone sorgte für gefühlvolle Popklänge, die emotional schon einmal auf das große Finale des Abends einstimmten. Doch bevor es so weit war, brachte Princess Nokia trotz verspätetem Flug und verlorenem Gepäck noch R&B der Extraklasse auf die Main Stage in Helsinki. Unter dem Vollmond vollzogen Florence + the Machine dann um 22:30 Uhr eine spirituelle Wiedergeburt, wie Florence Welch es nannte. Mit kristallklaren Gesangseinlagen und verträumter Bühnenshow begrüßte die Sängerin an diesem Abend Zehntausende neue Mitglieder in ihrem “Kult”. Jamie XX und Fountaines D.C. waren an diesem Abend der krönende Abschluss eines genialen zweiten Festivaltages.
Am Sonntag lohnte es sich, früh auf dem Festivalgelände zu sein, um Tag 3 einzuläuten. Bereits am Nachmittag verführte Goldlink die Hip-Hop-liebende Crowd in Croptop und Baggy Jeans mit einer wilden Show. Zu Tönen von Nirvana sollten sich alle im Publikum erst einmal richtig warm feiern, bevor der Rapper unter anderem einen unreleasten Remix von Woman von Doja Cat zum Besten gab. Groovy wurde es am frühen Abend erst mit Musik von Q, bevor Michael Kiwanuka die Weichen für einen entspannten Sonntagabend auf der Main Stage legte. Das französische Ensemble Acid Arab brachte mit einer Mischung aus elektronischer Clubmusik und traditionellen, arabischen Klängen die bereits müden Beine der Festivalbesucher:innen erneut zum Tanzen. Ebenso wie der Londoner Musikproduzent Fred Again, der mit massenverträglichem Gute-Laune-Elektro die Massen vor die Bühne zog.
Pünktlich um 21 Uhr kam dann der Mann auf die Bühne, auf den viele Fans bereits seit Freitag gewartet hatten. Nick Cave and the Bad Seeds glänzten mit musikalischer Exzellenz. Nick Cave ließ es sich dabei nicht nehmen, den Fans in der ersten Reihe so nah zu kommen wie kein Headliner zuvor. Ganze Songs verbrachte er Händchen haltend mit dem Publikum und erfüllte einem Fan sogar den Wunsch, eine Runde gemeinsam auf der Main Stage zu tanzen. Ein würdiger Abschluss für ein Festival, gefüllt mit ganz viel Liebe für Musik(fans) aller Art.
Wir können es kaum erwarten, zu sehen, welches Line-up die Veranstalter des Flow Festivals 2023 auftischen. Doch so viel wissen wir: Es wird garantiert für jeden Geschmack etwas dabei sein. Das nächste Flow findet vom 11. bis 13. August 2023 in Helsinki statt. Super-Early-Bird-Tickets sind bereits im Vorverkauf erhältlich.