BELLE – Filmkritik


Foto-© 2021 Studio Chizu

In der Realität ist kein Neustart möglich, in „U“ jedoch schon.

(Suzu – Belle)

Die 17-jährige Halbwaise Suzu (Japanisch: Glocke) lebt mit ihrem Vater in einem kleinen japanischen Vorort und verzweifelt zusehends an den mehr oder weniger alltäglichen Problemen und Verwicklungen einer jungen Heranwachsenden. Sie ist zurückhaltend, schüchtern und seit dem frühen Tod ihrer geliebten Mutter kann sie ihre Leidenschaft, die Musik, nicht mehr auszuleben. Bis sie in die virtuelle Realität „U“ eintaucht, in der jeder das sein kann, was er sich erträumt, beziehungsweise die beste Version seiner selbst. In Gestalt ihres wunderschönen Avatars Bell (Englisch: Glocke) begeistert sie die gesamte digitale und reale Welt und wird zu einer beliebten und gefeierten Sängerin, die auch das Interesse einer Biest-ähnlichen Gestalt weckt.

Die Geschichte von Belle erscheint nach der Synopsis zu urteilen, klassisch und altbewährt. Eine Geschichte, die seit Jahrhunderten immer wieder erzählt wird. Geschichten sind allerdings nicht nur da, um gehört zu werden, sondern uns zu bewegen, zu motivieren, zu begeistern. Um unsere Herzen anzusprechen. Und das schafft Belle, der neueste Film von Mamoru Hosoda.

Mit der Geschichte von und um Belle möchte Hosoda sehr viel erzählen und er hat auch sehr viel zu erzählen. Es werden viele unterschiedliche Figuren und spannende überweltliche Orte eingeführt, die jedoch nicht vollends vorgestellt werden. Ebenso werden (zu) viele Themen angerissen, aber nicht vollumfänglich behandelt, teilweise, ob der überladenen Handlung, teilweise, ob der Schwere und Ernsthaftigkeit von einzelnen Themen. Von Coming-of-Age, künstlichen und anonymen Identitäten in einer virtuellen Welt, der Angst vor der eigenen Identität, die Gefahren von Social Media, bis hin zu dem Verlust eines geliebten Menschen und der Umgang mit einer nicht enden wollenden Trauer, und dann auch noch Gewalt gegen Kinder. Mamoru Hosoda versucht all diese wichtigen Themen, die es sicherlich wert sind, erzählt zu werden, in einen Film zu packen. Die narrative Ebene des Films droht dabei des Öfteren ins Endlose zu verschwinden, wären da nicht die überaus grandiose visuelle sowie auditive Ebene des Films und die wunderbare Musik, die den Zuschauer in ihren Bann ziehen. Es existieren zahlreiche Szenen, die nicht nur bildgewaltig und technisch herausragend sind, sondern dabei auch noch vor Fantasie und Ideenreichtum strotzen. Darunter aber auch einige vorhersehbare Szenen, welche die Ernsthaftigkeit der jeweils angesprochenen Thematik vermissen lassen. Auch der deutliche Bezug zu der Disney-Version des Märchens von der Schönen und das Biest ist so eklatant, dass man sich fragt, ob Mamoru Hosoda sich bei dieser Hommage an den Klassiker nicht zu viel herausgenommen hat. Der Spagat zwischen Zitat und Kreativität auf der einen und Unterhaltung und Ernsthaftigkeit auf der anderen Seite gelingt leider nicht immer.

Doch was Mamoru Hosoda als begnadeter Geschichtenerzähler des Mediums Films ein weiteres Mal (nach Ame & Yuki und Mirai) gelungen ist, ist die Geschichte eines Mädchens und ihrer Mitmenschen zu erzählen, die zutiefst berührt. Eine filmische Geschichte, die ein großes Herz besitzt und eine reine Seele, die uns zeigt, dass die reale Welt trotz der hektischen Momente und trotz des Selbstzweifels, der Furcht und des Schmerzes, den jeder von uns ab und an fühlt, ein Ort ist, an dem man gerne zurückkehrt, ein Ort, an dem man einfach nur man selbst sein möchte. Die thematisierten Gefühle werden dabei so aufrichtig und nahbar dargestellt und dahingehend die Botschaft vermittelt, dass man die Lösungen zu vielen Problemen durch Güte und Verständnis findet. Und vor allem Frieden mit und in sich selbst finden kann, in dem man Frieden mit der eigenen, manchmal schmerzenden Vergangenheit schließt und lernt, dass man diese wie ein Buch lesen kann, dessen erste Seiten man nicht direkt herausreißen möchte.

Der fulminante und musikalische Höhepunkt dieses bezaubernden Anime lässt das Publikum mit der überladenen Erzählung Frieden finden und ist zudem so herzergreifend, so emotional und führt dabei alle losen Fäden zusammen, um ein Flickenwerk zu erschaffen, das die Lücken vielleicht nicht sinnvoll zu schließen vermag, jedoch mit sehr viel Gefühl befüllt. Ein bisschen wie im japanischen Kintsugi, einer traditionelle Reparaturmethode, bei der Keramik sichtbar mit Gold geflickt wird. Sind doch die Plotlücken weiterhin sichtbar, aber nicht mehr störend.

Belle ist ein lyrisches Musical, voller Emotionen, Intuitionen, einer Logik, die Rationalität übersteigt und einem mitreißendem Soundtrack, der beim ersten Mal hören augenscheinlich auch zu viel erzählen möchte, doch dann erwischt man sich dabei die Melodien immer wieder vor sich hinzusummen.

Belle (Japan 2021)
Regie: Mamoru Hosoda
Besetzung: Kaho Nakamura, Ryo Narita, Shota Sometani, Tina Tamashiro, Koji Yakusho
Heimkino-VÖ: 8. September 2022, Plaion Pictures

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Helena Barth

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