Foto-© Frank Ockenfels
Hey you, hey you
Think I got a
A hole in my head
I think all the numbness
Finally sank in
It’s making my
Head decay, head decay
When I walk by they screamin’
Isn’t anybody home in there
Home in there, I know
When they wind me up
I can make it through
Hell and back, hell and back
Me in my horror
A day in my horror
(Santigold – My Horror)
Dass aus Krisen Gutes entstehen kann, sehen wir an der Veröffentlichung des neuen Albums der Künstlerin Santigold. Ganze sechs Jahre nachdem ihr Longplayer 99¢ weltweit in Dauerschleife lief und zehn Jahre nach ihrem Megahit Disparate Youth erscheint heute mit Spirituals das vierte Studioalbum der Künstlerin Santi White aka Santigold. Man kann mit Fug und Recht behaupten, dass die amerikanische Musikerin eine Ikone ist, ohne allgegenwärtig zu sein. Ihr untrügliches Gespür für das Vereinen verschiedenster Einflüsse zu einem Sound, der interessant, vielschichtig, emotional und doch nie einfach nur gefällig ist, ist auch das Aushängeschild ihres aktuellen Werkes. Der Großteil der Platte ist 2020 entstanden, als White sich vom Wahnsinn einer pandemischen Lage mit drei Kindern, einem Haushalt und politischem Chaos erst erschlagen und dann inspiriert fühlte. Nach einer klassischen Schreibblockade habe sie noch nie so schnell ihre Texte schreiben können wie in dieser Situation. Musik als Ausweg, wie sie es selbst nennt: „I decided to create the future, to look towards where we are going, to create beauty and pull towards that beauty.”
Klanglich knüpft sie nicht an die Überraschungsmomente ihrer früheren Platten an. Vielmehr spinnt sie einen Faden, der von früher ins Heute führt und den viel geliebten Santigold-Sound ein Update, aber kein Makeover verpasst. Bestes Beispiel dafür ist ihr Song Ushers of the New World. Die Vocal Shifts, der Dub-Beat, die hellen Synthesizer, die süße Melodie machen nostalgisch, während im Text die Verantwortung der Menschen für die Katastrophen dieser Welt verhandelt wird: „Will we change or will we die?“ Die Schere zwischen Ton und Text begegnet uns auch im hypnotischen No Paradise. Während Stück für Stück sogenannte Group Chants in den Beat eingeflochten werden, kommt der Sound hier im Vergleich fast schon minimalistisch daher. Gleichzeitig ist das Lied ein Mahnmal für menschliche Widerstandskraft und was diese abverlangen kann. Auch der Opener My Horror erzählt vor einem lässigen tropischen Beat, einer gezupften Ukulele und einer unschuldig-hohen Melodie von einen psychischen Zusammenbruch. Hier lassen sich deutliche Anknüpfungspunkte an ihren Hit Paper Planes erkennen – der allerdings nicht so clean daherkam wie der aktuelle Sound. Überhaupt klingt auf dem Album wenig zufällig. Jeder Ton sitzt. Kein Wunder, wenn man sich die Armee an Kollaborationen und Produzierenden anschaut: Rostam, Boys Noize, Dre Skull, P2J, Nick Zinner, SBTRKT, JakeOne, Illangelo, Doc McKinney, Psymun, Ricky Blaze, Lido, Ray Brady und Ryan Olson. Puh.
Die durchdringenden Synthesizer von Ain’t Ready sind mit ihrem düsteren Gothic R&B zwar am Ende des Albums angesiedelt, der Track ist mit seiner Brutalität allerdings Beweis dafür, dass Santigold immer noch innovative Songs der ersten Güte schreibt. Aber bleiben wir bei der Schere zwischen Ton und Text, die auch beim wiederholten Hören neue Ecken entdecken lässt. So auch das großartige Fall First, mit dem das Album endet. Ein Bass, der an Manchester in den 1980-ern erinnert, der aber der signifikanten Stimme Whites die Bühne überlässt und mit so viel Energie arbeitet, dass man den tonal etwas zahmeren ersten Teil des Albums fast schon vergessen hat. Höchste Zeit, auf Repeat zu drücken.
Zum Titel sagt die Künstlerin: „I loved the idea of calling it Spirituals because it touched on the idea of Negro spirituals, which were songs that served the purpose of getting Black people through the un-get-throughable.” White beschreibt auf ihrer Platte eine Verzweiflung, in der Kraft liegt. Es geht um die vielen Arten der Existenz und deren Multidimensionalität. White schafft es wieder einmal erfolgreich, unterschiedlichste Hör- und Sinneseindrücke zu vereinen. An vielen Stellen platzt das Album vor Energie, man spürt förmlich die Klaustrophobie der Aufnahmesituation. Spirituals ist vielleicht nicht der große Knall, aber das großartige neue Album einer Künstlerin, auf deren Arbeit wir viel zu lange verzichten mussten.
Santigold – Spirituals
VÖ: 09. September 2022, Little Jerk
www.santigold.com
www.facebook.com/Santigold