Foto-© Hella Wittenberg
Die Künstlerin Mulay steht für kaleidoskopartigen Alt-Pop angereichert mit Alternative R&B-Sound, Liebe fürs Detail und eine ganzheitliche Herangehensweise an Musik als Kunst. Ihre zweite EP Ivory erschien am 05. Oktober via Grönland. Die Platte ist sowohl Weiterführung als auch Gegenpol zu ihrem dunkleren Debüt Antracyte (2021) und verhandelt auf ehrlich-intime Weise die Auseinandersetzung mit den eigenen toxischen Mustern, Schwächen aber auch Aufbrüchen.
Wir haben Mulay im September in Berlin Kreuzberg auf einen Kaffee getroffen. Im Gespräch erfahren wir, inwiefern Antracyte und Ivory für zwei Enden eines Spektrums stehen und warum es für sie kein einfaches Schwarz und Weiß gibt. Mulay berichtet, wie sie aus einem riesigen Haufen Ideen – chaotisch in ihrem Smartphone gespeichert – ein Puzzle beginnt, ohne das Endziel zu kennen und sich so beim Schreiben und Zusammenfügen der Teile selbst näherkommt. Außerdem sprechen wir darüber, inwiefern sie in Musik Wahrheit finden kann und wie sie für sich künstlerische Vision und wirtschaftliche Überlegungen miteinander in Beziehung setzt.
Glückwunsch zu deiner EP Ivory. Sie ist nach einem Song auf der Platte benannt. Wofür steht der Titel für dich?
Meine erste EP, die ich letztes Jahr herausgebracht habe, heißt Antracyte. Es geht um eine dunkle und schwere Zeit, die man durchlebt und wie man, nachdem man am Boden angekommen ist, wiederbelebt wird und das Ende am Licht des Tunnels erblickt. Antracyte hat für mich diese Dunkelheit repräsentiert. Dann kam die Frage auf, was nach dieser Wiedergeburt passiert. Das war auch die Reise, auf der ich in dem Moment privat gerade war. Dem wollte ich mich auf der neuen EP widmen. So ist Ivory entstanden. Der Song Ivory ist inspiriert von Platons Höhlengleichnis. Es geht mir dabei in erster Linie um den Moment, wo er nach dem schweren Weg an der Oberfläche ankommt und die Höhle verlassen kann. Es ist nicht so, dass er sofort die Wahrhaftigkeit aller Dinge sieht und alles leicht ist, sondern er ist erst einmal von der Sonne geblendet. Seine Augen brauchen Zeit, um sich daran zu gewöhnen und die Wahrheit der Dinge erkennen zu können. Diese Metapher fand ich sehr passend für die Situation, mit neuen Erkenntnissen aus einer Erfahrung zu kommen. Diese dann umzusetzen, Muster zu durchbrechen und Dinge zu unlearnen ist ein langer Prozess. Man ist im Licht, aber die Augen müssen sich erst einmal daran gewöhnen. Diesen Verlauf wollte ich mit der EP als Ganzes festhalten. Antracyte und Ivory sind ein Gesamtkonzept, das zeigen soll, dass es immer zwei Seiten einer Münze gibt: Ying und Yang, Dunkelheit und Licht − Einigkeiten, die nicht ohne einander existieren können. Dabei werden Dinge häufig sehr einfach dargestellt, schwarz oder weiß. Aber sie sind nie schwarz oder weiß, sie sind ein Spektrum. Darum ist Antracyte das eine Ende und nahezu schwarz, Ivory ist ganz nah zu weiß.
Auch die einzelnen Songs haben oft mehrere Bedeutungsschichten. Wie baust du diese Lagen im Schreibprozess auf?
Das ergibt sich recht organisch. Im Grunde läuft wie Denkprozesse oder Kommunikation beim Sprechen ab. Man hat eine Idee oder einen Gedanken und dann fällt einem eine Metapher ein, die man zur Erklärung nutzt. Es geht immer um den Versuch, etwas nach außen auszudrücken. Ein Gefühl zum Beispiel, das ja sehr schwer zu greifen ist. Jeder Mensch hat hier individuelle Assoziationen, je nachdem, was das Leben schon für Input gegeben hat. Ich habe das Gefühl, es ist im Grunde wie eine Maschine, die man sein Leben lang mit allen Eindrücken und Erfahrungen füttert. Dadurch entsteht eine Art Vokabular oder Archiv, auf das man zugreifen kann, um sich auszudrücken. So ist es beim Schreiben der Songs auch. Wenn ich beginne, denke ich nicht darüber nach, mehrere Ebenen einzubauen. Es kommt automatisch.
Du hast auch eine Art Archiv von Ideen in deinem Smartphone, im Pressetext werden sie poetische Snapshots genannt. Wie kuratierst du diese kleinen Elemente, wie entstehen daraus Songs? Ich hätte wahrscheinlich einen Haufen von 3.000 Notizen und wüsste nicht mehr, was da überhaupt alles da ist.
Es ist natürlich am besten, wenn Sachen noch präsent sind. Die Chance, dass ich zu etwas, das ich vor ein paar Jahren geschrieben habe, aus dem aber kein Song entstanden ist, zurückgehe, ist sehr gering. Allerdings sind manche Sachen, bei denen ich es für mich geschafft habe, etwas in einem Satz perfekt festzuhalten, dann doch in meinem Kopf. Die fallen mir dann manchmal total random ein. Plötzlich denke ich dann an eine Melodie und komme darauf zurück.
Deine beiden EPs wurden relativ kurz hintereinander veröffentlicht und bauen aufeinander auf. Warum hast du dieses Format gewählt und kein Album geschrieben?
Im Oktober kommt eine Vinyl raus, auf der die beiden EPs vereint sind. Es macht für mich auch total Sinn, dass sich die beiden dann wie zu einer Art Album zusammenfinden. In den Momenten des Entstehens war das noch nicht klar. Als ich Antracyte gemacht habe, wusste ich nicht, dass ich Ivory machen werde. Ich wäre daher nicht auf die Idee gekommen, zu warten. Zum Zeitpunkt der ersten EP hatte ich schon extrem viel live gespielt. Immer wieder kam die Frage, warum ich noch nichts veröffentlicht habe. Ich habe mir sehr viel Zeit damit gelassen, etwas zu releasen. Es war mir wichtig, dass ich an einem Punkt bin, an dem ich genau weiß, was ich will, wie ich mir das vorstelle und was meine Vision ist. Es war immer meine größte Angst, etwas zu machen oder irgendwo reingepresst zu werden, womit ich mich nicht identifizieren kann – das bin dann nicht ich. Es war mir sehr wichtig, zu reifen. Bei Antracyte war ich dann an dem Punkt und wollte es genau in der Form raushauen.
War das eine intuitive Entscheidung? Woher wusstest du, dass du bereit bist? Man findet doch sicher auch vorher schon Sachen gut, die man macht, sonst würde man ja aufhören, oder?
Naja… [lacht]. Ich hatte lange Angst, dass ich niemals an diesen Punkt kommen werde. Ich war immer mit allem unzufrieden. Ich bin eine krasse Perfektionistin. Ich habe tausende Sachen gemacht und viele Leute haben mir auch gesagt, dass es toll ist und so weiter, aber für mich war es irgendwie nie ganz 100%ig. Ich habe mich dann schon gefragt, ob ich jemals an den Punkt kommen werde, wo ich happy bin. Irgendwann hat es dann aber Klick gemacht und ich wusste: That’s it! Auch bei der zweiten EP war es so. Es ist besser geworden, weil man mehr Erfahrung hat und selbstbewusster gegenüber der eigenen Intuition und Craft ist. Trotzdem fühlt es sich an als hätte man einen Haufen von Bildern und Ideen. Man fängt langsam an, Dinge zu puzzeln, ohne zu wissen, was für ein Bild rauskommen soll. Irgendwann sieht man dann das Bild. Dann wird es einfacher, die letzten Teile reinzusetzen. Genauso ist es beim Kreieren.
Du hast in den Niederlanden Musik studiert. Hat dir dein Studium einen anderen Zugang zum Schreiben und zur Musik ermöglicht? Oder kann theoretisches Wissen auch hinderlich sein im kreativen Prozess?
Bei mir ist es zum Glück so, dass ich schon immer sehr intuitiv war und eher gehörbasiert als theoriebasiert gearbeitet habe. Das Studium hat mir geholfen, meinen Wortschatz zu erweitern. Es kann einem mehr Farben auf der Palette geben, um sich auszudrücken. Ich war allerdings nie so into it, dass ich das Gefühl hatte, ich bin nicht mehr frei davon, Sachen zu hören, ohne sie zu analysieren. In erster Linie bin ich dankbar dafür, dass ich diese Zeit hatte, in der es nur ums Experimentieren ging. Es ging nur um Kunst und Ausdruck ohne irgendeinen wirtschaftlichen Gedanken. Das ist ein großes Privileg und hat meiner künstlerischen Entwicklung viel gegeben. An der Uni war es sehr frei, man konnte jeden crazy shit machen. Man musste keine Angst haben, Dinge auszuprobieren, die gerade nicht so populär sind oder Wege zu gehen, bei denen es offensichtlich ist, dass sie nicht sofort zum wirtschaftlichen Erfolg führen.
Ich würde gerne noch über den Song Mood Swings sprechen. Du sagst, Musik zu machen, schafft dir Raum für Wahrheit. Kannst du uns in der Beziehung etwas über den Track und deine Beziehung zu dem Lied erzählen?
Den Anfang habe ich schon vor zwei Jahren geschrieben, deshalb musste ich die Stelle anpassen, wo ich mein Alter sage. Ich dachte dann: „Oh no, schon wieder zwei Jahre älter und noch immer kann ich relaten.“ [lacht] Was ja auch wieder zum Song passt. Er drückt für mich sehr ehrlich aus, womit ich persönlich struggle, was die Beziehung zu Liebe angeht. Es ist eine Selbstreflexion dazu, was ich fühle und warum.
Fällt es dir schwer, solche intimen Dinge öffentlich zu teilen? Die Texte sind ja schon sehr nah bei dir.
Es ist weird, ich weiß selber nicht, warum ich das mache. Vielleicht hat es auch etwas leicht Masochistisches [lacht]. Das Schreiben der Songs ist in erster Linie auch therapeutisch für mich. Deshalb sage ich auch, dass ich Wahrheit darin finde. Musik gibt mir den Raum und ein Tool, Sachen ehrlich zu mir selbst zu kommunizieren. Wir verarschen uns ja auch oft und reden uns Sachen ein, die gar nicht so sind. Durch die Musik habe ich schon oft erlebt, dass ich Songs schreibe und rückblickend, wenn ich Text lese, verstanden habe, was eigentlich abgeht. Oder Monate später zurückblicke und denke: „Du wusstest das doch alles schon!“. Man hat sich nur nicht zugehört. Das Unterbewusstsein kommt hier wirklich raus. Das Performen der Songs ist es auch Teil dieser Verarbeitung oder des Heilungsprozesses. Es ist für mich gar kein unangenehmes Gefühl.
Wir haben jetzt viel über Texte und deren Entstehung gesprochen. Wie würdest du deine klangliche Vision als Künstlerin beschreiben?
Was mich bei anderer Musik berührt und ich daher versuche auch zu machen, ist es, die Hörer:innen klanglich auf eine Art Reise mitzunehmen. Dass es hier auch verschiedene Ebenen und Entwicklungen gibt. Das kann auch minimalistisch sein, aber dass man die Tension spürt, die kommt und geht, dass es organisch ist. Das ist das wichtigste für mich – genau wie beim Text und genau wie bei den Visuals – dass es auf allen Ebenen eine Art Wahrheit und Menschlichkeit transportiert.
Wenn du Reise sagst, denke ich sofort an das Intro von Ivory. Wir haben vorhin schon über den Faktor Wirtschaftlichkeit gesprochen. Die meisten Hörer:innen werden die EP wahrscheinlich über Streamingdienste abrufen. Welche Überlegungen fließen mit ein, wenn du ein konzeptionell-künstlerisch wichtiges Stück an den Anfang stellst, das in einer reinen Streaminglogik allerdings wahrscheinlich nicht den idealen Einstieg darstellt.
Bei mir ist es so, dass ich meine EPs als Kunstwerk sehe, bei denen es darum geht, mein Konzept umzusetzen. Wenn man es im Businesssinn sehen möchte, geht es mir darum, mich zu etablieren und zu zeigen, wer ich als Künstlerin bin. Ich erhoffe mir keinen Nummer-1-Hit. Aber natürlich ist man auch nicht komplett unabhängig von den Plattformen. Ich hatte bei der EP einmal so einen Zweifel, ob ich nicht noch einen Track bräuchte, der ein bisschen mehr nach vorne geht. Ich habe dann aber gedacht: „Warte mal! Was machst du denn eigentlich?“ Wenn ich so rangehen würde, dass ich möglichst viele Hits auf die Platte packen möchte, würde ich komplett andere Musik machen. Deshalb muss ich mich auch nicht mit solchen Künstler:innen vergleichen. Da muss ich immer wieder zu mir selber finden und mich erinnern, worum es eigentlich geht. Ich liebe einfach Intros, Outros und solche Dinge. Selbst wenn das dann nicht 100 Millionen Leute gut finden, gibt es aber Leute, die es auch so fühlen und sehen wie ich. Und das ist doch super schön. Es geht eher darum, diese Leute zu erreichen und auf diesem Level zu wachsen.
Vielen Dank für das Interview!
Mulay live:
13.10.22 Berlin, Badehaus
05.11.22 Stade, Hanse Song Festival