Foto-© Angela Lewis
Für manche ist es die ultimative Aufgabe in ihrer Discographie ein Werk zu schaffen, das über das Aneinanderreihen von willkürlichen, wie unzusammenhängenden Songs hinausgeht – andere können gar nicht anders und versuchen irgendwie aus dem Konzept-Album-Sog auszubrechen. Der kanadische Songwriter Andy Shauf ist solch ein getriebener Musiker, dass er eigentlich vermeiden wollte sich wie zuletzt schon regelmäßig wieder einem großen Werk zu widmen. Dementsprechend war der Arbeitstitel für den Nachfolger des Ende 2021 erschienenen Wilds, erstmal Norm – eine normale Platte eben. Doch als Shauf eines Abends einen Film von David Lynch sah, fand er eine Inspiration für die Gestaltung eines neuen, ungewollten Konzepts. Eine fast statische Kameraeinstellung eines Schlüssels auf einem Tisch dauerte ununterbrochen zwei Minuten, dann fünf Minuten, dann sieben Minuten. Es schien unmöglich in seiner Unerbittlichkeit und grenzte an Genialität. Schließlich bemerkte Shauf, dass sein Browser abgestürzt war und der Film eingefroren war. Verzaubert von dem Gefühl der Möglichkeit und des Staunens, das den Film für ihn in dieser Zeit des Unverständnisses so lebendig gemacht hatte, wollte er etwas Ähnliches schaffen. Er ließ absichtlich Freiräume, durch die die Hörer eindringen konnten, um die Geschichte zu finden und für sich selbst eine Bedeutung zu schaffen.
Gefangen im Netz des Konzeptdrangs – nachdem die ersten Skizzen entstanden waren und Shauf erkannte, dass er tatsächlich das Zeug zu einem weiteren Konzeptalbum hatte, begann er, freistehende Songs, die er für die ursprüngliche Idee von Norm geschrieben hatte, zu überarbeiten und die Texte zu ändern, bis sie alle in Norms Universum passten. Er wollte sie miteinander verbinden, ohne die Zuhörer durch eine offensichtliche Geschichte zu drängen. Nachdem er die Texte verfeinert hatte, schickte er sie an seinen Freund Nicholas Olson, der die Gesamterzählung so interpretierte, wie er sie verstand. Sie wiederholten diesen Prozess einige Male, bis Shauf das Gefühl hatte, dass die Knochen der Geschichte, so wie er sie sich vorstellte, nahe genug an der Oberfläche lagen, um von jedem ausgegraben zu werden, der danach suchen wollte.
Shauf schrieb, sang und nahm das gesamte Album auf und rekrutierte Neal Pogue (Tyler the Creator, Janelle Monae, Outkast) für den Mix. Da Shauf alles singt, ist es nicht immer offensichtlich, wessen Sichtweise in den einzelnen Songs vertreten ist. Aber das Textblatt gibt diskrete Hinweise darauf, wessen Stimme wir in einem bestimmten Moment hören (die Besetzung von Norm umfasst insgesamt vier Stimmen). Damit hat Shauf die Methoden des Songswritings auf den Kopf gestellt und ein eindringliches, wie unvorhersehbares Universum geschaffen. Es entfaltet sich eine Geschichte, die von Song zu Song springt und die Komik und Grausamkeit der Menschheit beleuchtet, aber wenn man genau hinhört, spielt sich der Großteil der Handlung in den Lücken zwischen den Tracks ab – in der Phantasie der Hörer.
Nachdem die Albumankündigung für den 10. Februar via ANTI- mit der ersten Single Wasted On You verbunden war, erschien gestern die neue Single Catch Your Eye, begleitet von einem charmanten, animierten Video, das von Shauf geschrieben und von Mary Vertulfo animiert wurde!
Andy Shauf live:
06.06.23 Berlin, Columbia Theater
08.06.23 Hamburg, Uebel & Gefährlich
