30 - 21
30. Arcade Fire – WE
Sicherlich – das Jahr 2022 wird in der Bandgeschichte von Arcade Fire als schwieriges Jahr eingehen, überschatteten die schweren Vorwürfe zu sexuellen Übergriffen von Frontmann Win Butler doch die Tour der Kanadier – gleichwohl darf man nicht vorenthalten, dass die Band mit dem sechsten Studioalbum WE ein prägnantes 40-minütiges Epos veröffentlichte. Ein Epos, das ebenso sehr von den Kräften handelt, die uns von den Menschen, die wir lieben, wegzuziehen drohen, wie von der dringenden Notwendigkeit, sie zu überwinden. WE’s kathartische Reise folgt einem definierbaren Bogen von der Dunkelheit ins Licht über den Verlauf von sieben Songs, die in zwei unterschiedliche Seiten unterteilt sind – Seite I, die die Angst und Einsamkeit der Isolation kanalisiert, und Seite WE, die die Freude und Kraft der Wiedervereinigung ausdrückt.
29. Tara Nome Doyle – Værmin
Was passiert wohl, wenn die majestätische Stimme Tara Nome Doyles und ihre tiefgehenden Klavierkompositionen mit den Synthesizer- und Engineering Skills von Simon Groff zusammentreffen? Es entsteht ein Konzeptalbum namens Værmin, das nichts für schwache Nerven ist. Diesmal entführte uns die Berlinerin, um mit uns die oft hässliche menschliche Natur von allen Seiten zu betrachten. Dabei benutzt sie zur metaphorischen Darstellung nichts geringeres als „Ungeziefer“. Von Liedern namens Blutegel über Schnecken bis hin zu Würmern hat die Künstlerin ein One Women Musical geschaffen, das seinesgleichen sucht. Dabei überraschte sie uns mit ihrer neu entdeckten, rohen Bruststimme, die sie wie ihren Gegenspieler in den Liedern einsetzt. Mit wechselnd süßer Kopfstimme oder dunkler, bitterer Bruststimme erzählt Værmin die Entwicklungen tragischer Liebesgeschichten.
28. Die Nerven – Die Nerven
So eine lange Pause wie die zwischen Fake und dem neuen Album gab es in der Bandgeschichte von Die Nerven noch nie, – doch das Warten hat sich gelohnt, die Band ist endlich mit ihrem selbstbetitelten schwarzen Album zurück. Schon bei der ersten Single war klar, dass dieses Album so aktuell sein wird, dass es wehtut! Es legt den Finger förmlich in die Wunde…aber stimmt das überhaupt? Eigentlich ist diese Platte nämlich bereits vor den großen Krisen der vergangenen Jahre entstanden, umso beeindruckender ist es, wie die Band um Kevin Kuhn, Julian Knoth und Max Rieger ein Album erschafft hat, das scheinbar niemals an Aktualität verliert.
27. Phoenix – Alpha Zulu
Zum 25jährigen Bandbestehen meldeten sich Frankreichs Indie-Rocker Phoenix mit ihrem siebten Studioalbum Alpha Zulu zurück. Und die gewohnten elektronischen Tanz-Banger waren auch hier wieder zu finden. Fünf Jahre mussten Fans zuvor auf ein neues Album der vier Franzosen warten. Nach der Italo Disco-Phase von Ti Amo ging es nun für die neuen Aufnahmen in den Louvre. Im Museé des Arts Décoratifs sind alle zehn Songs für Alpha Zulu entstanden. Umgeben von Kunstwerken wurden sie auch für ihr Albumcover inspiriert, das die vier Jünglinge aus Sandro Botticellis Maria mit Kind und Engelschor zeigt. Phoenix bleiben ihrer Liebe zu bedeutenden Werken der Hochkultur treu. Alpha Zulu ist etwas ernster und rauer als die beiden Vorgängeralben, was auf jeden Fall ein Pluspunkt ist. Statt auf überladene Klangstrukturen fokussieren sich Phoenix wieder auf ihre Stärke als intellektuelle Indiepop-Band – zu der man ganz nebenbei auch gut tanzen kann.
26. Pinegrove – 11:11
Es gibt dann doch gar nicht so viele Bands, auf die man sich wie auf eine alteingesessene Institution verlassen kann. Pinegrove ist eine von ihnen. Mit ihrem aktuellen Studioalbum 11:11 brachten sie Altvertrautes zurück und veränderten sich dennoch erfrischend im Vergleich zum 2020 erschienenen Marigold. Die elf neuen Songs sind immer noch so eingängig wie eh und je, während melodiöser Fokus und poetisches Feingespür ineinander verschmelzen. Vor allem der Sound, der zuletzt sehr sauber und produziert klang, ist nun mit Hilfe von Chris Walla (ehemaliges Death Cab for Cutie-Mitglied) ein Stück rudimentärer und handgemachter geworden. Schon der ausufernde Opener Habitat klingt nach „Kabel eingesteckt und losgelegt“ und entpuppt sich dabei doch als ein vielschichtiges Klangerlebnis: mehr Americana, weniger Emo. Umso mehr Optimismus bringt das kurze und aufrüttelnde Alaska mit voller Power und Punk Attitüde. Nicht nur in diesem Song geht es um die Perspektive einer Gesellschaft, in Gefahr auf sich nicht oder zu langsam verändernde Politik. So behält Pinegrove Mastermind Evan Stephens Hall recht, wenn er sagt, dass das Album diverse Gefühlsstadien abdeckt: „There’s anger, love, hope and grief. The record has all of that.“ Auf jeden Fall schließt die Band mit 11:11 an die alten American-Indie Klassiker von Death Cab For Cutie bis Bright Eyes an – Pinegrove spielt musikalisch mit diesen schon längst in einer Liga und kann uns auch heute immer noch wieder Neues erzählen.
25. Kevin Morby – This Is A Photograph
Der US-amerikanische Songwriter Kevin Morby verneinte in unserem Interview direkt zu Beginn, dass es seiner Meinung nach kaum möglich ist Kunst oder Musik zu machen, ohne, dass diese nicht persönlich ist. Und doch – irgendwas ist da bei seinem neuen, siebten Album This Is A Photograph anders, was es zu einer hochpersönlichen Angelegenheit macht: „They are all the same in a way, but a I do agree that there is something more vulnerable about this one. With the first single, when it was about to come out, I was feeling a little bit unconscious. Which is something that I usually not feel before, like: ‚Wow, this is something like a family story.‘ You know, it’s like really opening up for the public. So in a way it is the most personal.“
Die Familienstory dahinter ist der Auslöser, der ihn dazu brachte an einem neuen Album zu arbeiten: Die Geschichte beginnt im Januar 2020, als Morby im Keller seines Elternhauses in Kansas City geistesabwesend in einer Kiste mit alten Familienfotos blättert. Nur Stunden zuvor war sein Vater bei einem Familienessen vor seinen Augen zusammengebrochen und musste ins Krankenhaus gebracht werden. In dieser Nacht spürte Morby noch immer den Schock und die Angst in seinen Knochen. Also sah er sich die Bilder an, bis ihm eines davon ins Auge sprang: sein Vater als junger Mann, stolz und stark und voller Selbstvertrauen, der mit freiem Oberkörper auf einer Wiese posiert. Das hat ihn nachdenklich gemacht – und ein Album hervorgebracht, dass einnehmend, mitreißend und voller Lebensfreude ist, das es aus der eh schon großartigen Discographie des Ausnahmekönners noch mal herausragt!
24. Sondre Lerche – Avatars Of Love
Der Norweger mit dem Faible für cleveren “Sophisticated-Pop” hat im Corona-Lockdown einen Kreativitätsschub erlebt. Auf dem resultierenden Lerche-Album ist zwar Masse zu bestaunen (15 Tracks, 90 Minuten), aber zum Glück auch jede Menge Klasse. Besser und eleganter hat wohl seit Prefab Sprout niemand zart-romantische Balladen, Lounge-Jazz, Electro-Extravaganzen und Latin-Spielarten wie Bossa Nova oder Samba verzahnt. Als wenn Paddy McAloon, Joao Gilberto, Villagers und Pet Shop Boys im Studio gemeinsame Sache gemacht hätten.
23. Danger Mouse & Black Thought – Cheat Codes
Die Kollaboration zweier Legenden: Produzent Danger Mouse (u.a. Gnarls Barkley) und Rapper Black Thought (The Roots) legen mit Cheat Codes eines der besten klassischen Rap-Alben des Jahres vor. Vor der Kulisse melodischer Samples und glasklarer Produktion ergeht sich Black Thought mit Features wie A$AP Rocky (Strangers) oder Michael Kiwanuka (Aquamarine) in poetischen Gegenwartsreflexionen. Leider ein Geheimtipp!
22. Ethel Cain – Preacher’s Daughter
Hayden Silas Anhedönia, beziehungsweise ihr musikalisches Alter Ego Ethel Cain, kam gefühlt aus dem Nichts, um 2022 im Sturm zu erobern. Und das wobei sie mit ihren Songs gerne die hässliche Fratze Amerikas heraufbeschwört – all die Scheinheiligkeit der Bibel-Besitzer, Konföderierten-Flaggen-Hisser und politischen Grenzüberschreiter. Sie hat all das selbst erlebt als Priesters-Tochter in Tallahassee und erzählt davon auf ihrem atemberaubenden, wie atmosphärischen Debütalbum in 76-Minuten, das sie irgendwo zwischen Gothic-Lana Del Rey mit Taylor Swift-Anleihen verortet.
21. Bad Bunny – Un Verano Sin Ti
Der 28-jährigen puerto-ricanischen Rapper und Sänger Benito Antonio Martínez Ocasio ist ein absoluter Rekord-Brecher und muss wohl in 2022 mit dem meistgestreamtesten Album Un Verano Sin Ti auch in unserer Jahresbesten-Liste vertreten sein! Nebenbei stellte er damit auch noch den Rekord der meisten Streams am Tag einer Veröffentlichung ein (183 Millionen zu zuvor 176 Millionen des Rappers Drake) – alles natürlich kein Wunder, sind die 23 Songs doch voller entspannt sommerlicher Melodien und Beats, die einen in Ferienstimmung versetzen, nachdem man bald 2 Jahre in der Tristesse der eigenen vier Wände verbrachte…