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10. Aurora – The Gods We Can Touch
Es wirkt manchmal als wäre Aurora ein Fabel-Wesen aus der skandinavischen Natur, das gekommen ist um Jung und Alt mit abwegigen Pop-Melodien zu verzücken – und genau das tat sie auch in 2022 wieder mit ihrem neuen Album! Dabei wirken ihre Pop-Entwürfe immer irgendwie auch eigenartig, sonderbar oder eben besonders – eben ganz Aurora!
9. Loyle Carner – HUGO
„The people wanna dance, they don’t wanna hear the truth”, rappt Loyle Carner auf dem Track Speed of Plight seines neuen Albums hugo. Zwar ist diese sarkastische Line nicht der Opener, doch spiegelt sie den Prozess und die Themen wider, die sein 2022 erscheinendes Drittwerk bestimmen. Denn Benjamin Coyle-Larners zehn neue Stücke sind viel mehr Introspektion und stecken noch mehr Finger in die eigenen Wunden als die ersten beiden gefeierten Alben. Der jazzige und gemütliche Sound wird nicht abgelöst aber doch erweitert, um härtere Beats und etwas weniger smoothe Wohlfühlgesten, die Carner spätestens und völlig zurecht mit Not Waving, But Drowning nicht nur auf der Insel zu Everybody’s Darling und zu einem Pionier eines neuen Hip-Hop Gestus machten. Carner bleibt sich treu und schafft es vielleicht noch viel mehr auf hugo, Hip-Hop zu machen, der all das in Frage stellt, was viele Rapper in Form von Belanglosigkeit und überheblichem Männlichkeitsgehabe proklamieren. Diesmal klingt das rauer, ernster und trotzdem musikalisch genau so aufregend, wie man ihn kennengelernt hat. Der Zeit angemessen aber mindestens so zeitlos wie auf seinen Vorgängeralben.
8. Indigo Sparke – Hysteria
Die ersten Ideen und Gedanken für ihr zweites Album Hysteria sammelte Indigo Sparke bereits, als die Veröffentlichung ihres Debütalbums Echo im Jahr 2021 gerade noch im vollen Gange war. Auf die Erneuerung ihres Visas wartend und in Australien gestrandet, ging die Wahl-New Yorkerin durch eine schwierige Trennungsphase – eine Zeit der intensiven Trauer, die für die Musikerin auch weitere, bereits verarbeitet geglaubte Kapitel ihrer Vergangenheit neu aufleben lies. Von Liebe in jeglicher Form über komplexe Traumata, mentale Gesundheit hinzu Lebensabschnitten in Indien und Bali zogen vergangene Bilder ihres Lebens nur so an Sparkes inneren Auge vorbei und sollten so mehr als genug herzzerreißendes Material für ihre zweite Platte liefern.
Hysteria ist letztlich ein Album von höchster Intimität, mit dem Sparke reinen Tisch mit der Vergangenheit und Erfahrungen der letzten Jahre macht, um gestärkt durch Reflexion und Wachstum in die Zukunft zu blicken. So minimalistisch die Instrumentierung und Musik der neuen Songs dabei auch teils erscheinen mag, sind des dabei ihre kraftvolle Stimme und durchdachten Songstrukturen, die in den Bann ziehen und einen düsteren sowie funkelnden Soundtrack liefern.
7. Harry Styles – Harry’s House
Nach seinem Lockdown-Märchen kehrte Harry Styles, der während der letzten 2 ½ Jahre vom Pop-Prinz-Kandidaten zum König seiner Klasse befördert wurde, zurück. Es ist nicht so, dass es zuvor keinen Hype um den 28-jährigen Briten gab – doch mittlerweile ist die Dominanz des Multitalents unausweichlich. Mit Harry’s House baute er sich gleich sein nächstes Denkmal. Denn mit dem Album hat er einen unbeirrten Zufluchtsort geschaffen, an dem man Straßenschuhe gegen Kuschelsocken tauschen will. Der einem tröstlich und warm einen Arm um die Schulter legt und weinen lässt, um später gemeinsam durch die Küche zu tanzen, selbst, wenn man grad noch beteuert hatte, dass man gar nicht tanzen kann. Harry, der beste Freund in Albumform: „When nothing really goes to plan / You stub your toe or break your camera / I’ll do everything I can to help you through / If you’re feeling down / I just wanna make you happier, baby“
6. Ry X – Blood Moon
Der australische Musiker und Produzent Ry Cummings, alias Ry X, hat sich mittlerweile seine ganz eigene Schublade erspielt und sorgte in 2022 mit seinem dritten Album, das er in Topanga fast im Alleingang produzierte wieder für großes Gefühlskino. Atmosphärisch dicht singt, fast haucht er Gedanken über Verlustängste, die durch eine introvertierte Platte hallen, die auch immer wieder mit elektronischen Einflüssen punktet, aber insgesamt den Inhalt und besonders die Verletzlichkeit des Musikers in den Mittelpunkt stellt.
5. Angel Olsen – Big Time
Seit wir zuletzt von Angel Olsen gehört haben, ist viel bei ihr passiert. Die Singer-Songwriterin aus Missouri hat sich neu verliebt, sich als queer geoutet und kurz darauf unabhängig voneinander beide Eltern verloren. Drei Wochen nach der Beerdigung ihrer Mutter war Olsen im Studio, um ihr neues Album Big Time aufzunehmen. Künstlerisch hat sie sich nach ihrer opulenten Platte All Mirrors (2019) im Jahr 2020 mit ihrem minimalistischen Album Whole New Mess maximal verletzlich gezeigt. Um der Eintönigkeit des Lockdowns zu entfliehen, nahm sie mit Aisles 2021 noch eine elektronische EP mit Covern von 80s-Klassikern auf. Auf Big Time kombiniert sie pure mit elektronischen und symphonischen Ansätzen und legt den Fokus auf Folk, Country und Americana. Was trotz aufwändiger und manchmal überladener Produktion von Jonathan Wilson bleibt, ist ihre Fähigkeit als Songschreiberin Wunden offen- und Emotionen freizulegen.
Es fällt schwer, die Essenz von Angel Olsen in Worte zu fassen. Ihr Werk ist geprägt von den Motiven Verlust, Schmerz aber auch Hoffnung. Auf Big Time nimmt diese Dualität eine völlig neue Dimension an – auch wenn sie nicht explizit ausgesprochen wird. Olsens Songwriting ist beeindruckend, man hätte ihr jedoch an einigen Stellen mehr Raum geben können. Trotzdem hat sie uramerikanische Genres genommen und erfolgreich in ihre eigene neu gefundene Perspektive gesetzt. Weil sie nicht so tut, als könnte man Schmerz rückstandslos überwinden, sondern es schafft, ihn in die schönen Momente als Verstärker einzubringen.
4. Charli XCX – Crash
Wo BANKS sich mit ihrem 2022er Album komplett unabhängig zeigte, befreite sich die britische Pop-Sängerin Charlotte Aitchison, alias Charlie XCX, mit ihrem fünften Studioalbum Crash aus den Zwängen ihres Label-Vertrags mit Atlantic Records. Doch natürlich ging sie mit einem Knall – eine ganze Mannschaft an Produzenten arbeitete an den Songs mit (darunter auch Ariel Rechtshaid oder Oneohtrix Point Never) und auch die Feature-Beiträge von Caroline Polachek oder Christine And The Queens sind hochkarätig. Die Künstlerin selbst betrachtet das Album als sell-out und zelebrierte damit all das, was ein Mainstream-Album sein soll.
3. SOHN – Trust
„Vertraue dem Prozess“ heißt es so schön. Für SOHN bedeutete das, sein drittes Album komplett über den Haufen zu werfen, Begrifflichkeiten wie „Song“ oder „Producer“ neu zu definieren. Für sein neues Werk Trust bedeutete das, keine Angst davor zu haben, Dinge anders zu machen als zuvor. Selbst, wenn der altbekannte Weg erst zur Popularität des Briten führten und ihn zu einer der wichtigsten Figuren der gegenwärtigen Indietronica-Szene machten. Die Hauptthemen auf dem neuen Album sind Gemeinschaft, Intimität, Offenheit und Familie – kein Wunder ist der Musiker hinter dem Projekt doch mittlerweile Vater von drei Kindern. „Bei Trust ging es um Gemeinschaft“, erklärt SOHN. „Es ging um Freunde. Es wurde ein Spiegelbild meiner Familie. Es spiegelt die Tatsache wider, dass ich plötzlich diese Art von Offenheit fühlte, die ich vorher nicht gespürt hatte.“
2. Hermanos Gutiérrez – El Bueno Y El Malo
Das Album El Bueno Y El Malo des Zürcher Duo Hermanos Gutiérrez, bestehend aus den Brüdern Estevan und Alejandro Gutiérrez, ist die epischste Reise bisher. In Zusammenarbeit mit Dan Auerbach beweist das Duo, durch die brüderliche Verbundenheit, erneut sein Händchen für lebhafte Kompositionen und intimes Gitarrenspiel, bei dem sich interessante Rhythmen und eingängige Melodien perfekt miteinander verbinden. Aufgenommen und produziert in Auerbachs Studio in Nashville, gehen Hermanos Gutiérrez musikalisch auch einige Schritte weiter, was sich durch spannende Drums und Percussion-Pats bemerkbar macht.
1. Big Thief – Dragon New Mountain I Believe In You
Eine Stimmung, die wir doch gerne mitnehmen – Licht, das durch Blätter fällt. So könnte man die Atmosphäre dieser neuen Platte beschreiben. Dabei war bei den Vorgängern doch eher melancholischer grauer Himmel angesagt. Hier haben Big Thief sich bewusst entschieden, etwas zu verändern. Es beginnt beim Aufnahmeprozess, um den sich Schlagzeuger und Produzent James Krivchenia gekümmert hat. Eine Idee, um nicht immer denselben Mustern zu verfallen. Und eben auch, um den Fokus von der outstanding Frontfrau, Adrianne Lenker, auf die Band zu lenken.
Das ist gelungen. Die Songs sind verspielter, die Band gibt sich der Spontanität hin, was dem innovativen Aufnahmeprozess zu verdanken ist. Die Songs wurden an vier unterschiedlichen Orten mit zugehörigem Produzenten geschrieben und aufgenommen, in der Hoffnung, dadurch eine Perspektive zu finden, die vorher nicht möglich gewesen wäre. In Upstate New York, im Topanga Canyon, in den Rocky Mountains und in Tucson, Arizona, verbrachte Big Thief fünf Monate mit der Produktion, bei der letztlich 45 Songs entstanden. Das Material, das am meisten Resonanz fand, wurde zu den 20 Tracks von Dragon New Warm Mountain I Believe In You zusammengeschnitten.
Ein Abwechslungsreiches Doppelalbum ist das Resultat, das optimistisch ist und sehr gegenwärtig; auch verspielter, im positiven Sinne. Die Songs klingen nach Stadt, nach Land, nach Nord und nach Süd. Jeder Aufnahmeort hat den Songs einen eigenen Klang mitgegeben: In Tucson hat die Fiedel ihren Weg auf das Album gefunden, das mit der Flöte untermalte No Reason ist definitiv der Singleauswahl würdig, Heavy Bend und Blurred View bedienen sich elektronischer Sounds und gehen gar in die Trip-Hop-Richtung. Bei Little Things lohnt es sich wortwörtlich auf die Nuancen zu achten, um die mitreißende Energie des Songs aufzusaugen.
Eine Reise, die wir als Hörer mit der Band gehen können: Es geht um Selbstfindung jedes einzelnen (Bandmitglieds), die Wände der Indie-Rock-Box, der Songstrukturen, Songlängen zu sprengen. Die Musik zu fühlen. Und das ist mal wieder eine Spezialität der vier US-Amerikaner. Denn sie gehen tief: Dramatik durchzieht die Songs, umso mehr gewinnen die frohen Töne an Gewichtung. Ein Spiel aus Licht und Schatten, bei dem das Licht gewinnt.
Natürlich gibt es immer noch ein paar Momente, in denen der Scheinwerfer auf die großartige Songschreiberin Adrianne Lenker ausgerichtet ist, mit ihrer zerbrechlichen und femininen Stimme. Dennoch wirkt das Projekt gelungen. Es spricht auf jeden Fall für das Bandgefüge Big Thiefs, die dadurch stärker denn je erscheinen: experimentierfreudig, aber immer noch sie selbst. Verständlich, dass es schwierig geworden ist, sich am Ende in der Songauswahl zu entscheiden, aufgrund der persönlichen und gemeinsamen Banderfahrung. Dadurch zieht sich das Album in eine Länge von unnötigen eine Stunde und zwanzig Minuten, jedoch mit vielen Highlights, die es sehr hörenswert machen.