WILCO – Cruel Country


Foto-© Charles Harris

I love my country like a little boy
Red, white, and blue

I love my country, stupid and cruel
Red, white, and blue

All you have to do is sing in the choir
Kill yourself every once in a while
And sing in the choir
With me

(Wilco – Cruel Country)

“Red, white, and blue”: Was wie ein naiver, an den US-Nationalflaggenfarben ausgerichteter Folk-Singsang beginnt, ändert schon bald die Richtung. “My country, stupid and cruel”, seufzt Jeff Tweedy mit ermattet melancholischer Stimme, wenig später fallen harsche Worte wie “Kill Yourself” oder “Set Yourself on fire”. Denn, na klar, wir haben es hier nicht mit irgendwelchen konservativen Cowboyhut-Hurraschreiern zu tun, sondern mit Wilco. Also mit einer Band, die das Schöne und das Hässliche Amerikas, die Herzenswärme und die stupide Grausamkeit seiner Menschen schon oft trefflich zu besingen wusste.

Auf Cruel Country, dessen doppelbödiger, mit ganz wenigen Sätzen tiefschürfender Titelsong hier nur als ein Textkunst-Beispiel unter vielen zitiert sei, werden Wilco ihrem Ruf als auf lange Sicht beste, klügste, kompletteste US-Rockband wieder einmal gerecht. Ihr seit fast 30 Jahren bewiesenes Genie besteht eben nicht nur in der innovativen Verzahnung von Folkrock, Americana und Alternative Country mit Singer-Songwriter-Pop und Electro-, Krautrock- oder Noise-Experimenten, in ihren ausufernd-ekstatischen Live-Gigs oder der liebevollen Verbindung zu Millionen Verehrern. Auch Tweedys profunde Sensibilität als Songtexter und Autor – zuletzt nochmals nachgewiesen in zwei überaus lesenswerten Büchern – ist eine Trumpfkarte des seit 2004 personell unveränderten Sextetts aus Chicago.

Wer Meilenstein-Alben wie Being There (1996), Yankee Hotel Foxtrot (2001), Sky Blue Sky (2007) oder The Whole Love (2011) in seiner Diskographie stehen hat, könnte sich mit jeder neuen Platte bei Fans und Kritikern schwer tun. Nach zwei etwas schwächeren Werken Mitte der 2010er Jahre haben Wilco jedoch schon 2019 mit dem prachtvoll beatlesken Ode To Joy die Kurve gekriegt. Bei jenem Neustart-Werk und bei Tweedys countryfolkigen Solo-Scheiben der vergangenen Jahre knüpft Cruel Country mit üppigen 21 Songs und 78 Minuten Spieldauer an.

Und was für Songs hier versammelt sind… (zugegeben, man sollte die Platte mehrfach in Ruhe hören, sie ist ein klassischer Grower). Selten hat Tweedy ergreifender gesungen als in Sad Kind Of Way oder in Many Worlds, einem Insel-Song mit Nels Clines tollstem Gitarrensolo seit langem – beide für jede Best-of-Wilco-Playlist dringend empfohlen. Das verschattete Ambulance berührt ähnlich tief mit der wundersamen Rettung eines Junkies (“While I was busy dying/My Lord, she made some other plan”). In All Across The World und Hearts Hard To Find nähern sich Wilco dem flirrenden Westcoast-Sound der 70er. Story To Tell ist eine Piano/Steelguitar-Ballade zum Niederknien, Country Song Upside Down tatsächlich ein auf den Kopf gestellter Country-Song – und noch so viel mehr.

Überhaupt “Country” – bei Wilco ist das ein weiter Begriff, selbst in lässig swingenden Ländler-Songs wie Falling Apart (Right Now) oder A Lifetime To Find sind sie so weit weg wie möglich von Nashville-Kitsch-Klischees und dumpfem “Yeehaw!”. Tweedy hat sich mit dem neuen Album zwar zu den eigenen Wurzeln (in der Countryrock-Truppe Uncle Tupelo und mit dem Wilco-Debüt A.M. von 1995) bekannt, aber mit einem Augenzwinkern, und skeptische Fans letztlich hinters Licht geführt. Auf Cruel Country definieren er und seine grandiose Band das Genre nicht neu, aber sie dehnen es in allerlei ungewohnte Richtungen, und das macht die beeindruckende Innovationsleistung auch dieser zwölften Wilco-Studioplatte aus.

Nicht verschwiegen sei, dass die sechs Musiker und ihr Label es den Fans im vorigen Jahr nicht leicht gemacht haben mit der sonderbaren Veröffentlichungspolitik zu Cruel Country. Das Album kam im Mai 2022 lediglich digital heraus, wurde aber sofort danach, obwohl den Konzertbesuchern noch fast unbekannt, bei Live-Auftritten ausgiebig abgefeiert. Eine erste physische Veröffentlichung zum weltweiten Vinyl-Feiertag Record Store Day – aber nur auf CD, und dann auch noch als sehr limitierte Weißmuster-Version – wurde von manchen schon fast als Affront empfunden. Bis Jahresende tat sich nichts mehr – daher geht diese Platte nun, was CD/Vinyl betrifft, quasi als 2023er Album durch.

Genug gemosert, sei’s drum: Hauptsache, Cruel Country ist nun endlich so richtig in der Welt, die mit diesen fabelhaften Tweedy-Liedern zu einer etwas besseren wird.

Wilco – Cruel Country
VÖ : 20. Januar 2023, dBpm/ADA/Warner als CD und Black oder Coloured Vinyl
www.wilcoworld.net
www.facebook.com/wilcohq

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Werner Herpell

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