Foto-© Rough Trade Records
I can’t come to quantify the feeling
I was walking home half in the dreaming
The things that I was thinking I was singing
The wind whistled you in behind the springing
(Lisa O‘Neill – Old Note)
Mit großen Auszeichnungen im Gepäck und nicht zuletzt einer Verewigung im Finale von Peaky Blinders, der legendären Serie über die englische Gangster-Familie Shelby, bringt Lisa O’Neill mit All Of This Is Chance nun ihr fünftes Studioalbum, diesmal via Rough Trade raus. Wer die irische Folk-Musikerin mit der bemerkenswerten Stimme noch nicht kennt, der wird schon gleich beim ersten Hören das Gefühl bekommt, dass sie trotzdem immer schon da war. Der Folk Sound von O’Neill klingt seit jeher wie ein Überbleibsel aus einer alten Zeit, geisterhaft aber mit der durchdringenden, kräftigen Stimme, die alte Geschichten zu überliefern hat; Weisheiten, historische Geschehnisse, kuriose Begebenheiten. So beginnt auch dieses Album mit den Worten aus Patrick Kavanaghs The Great Hunger, über die große Hungersnot in Irland im 19. Jahrhundert: „Clay is the word and clay is the flesh, Where the potato-gatherers like mechanized scarecrows move, along the side-fall of the hill.”
Wie diese Zeilen schon andeuten, ist das große verbindende Element der acht, teils überlangen Stücke die Beziehung zwischen den sich entfremdenden, doch eigentlich verbundenen Einheiten von Menschheit und Natur. Blut, Vögel, Pflanzen, Beeren, Samen, die Sterne, der Mond. Alles vorgetragen mit dieser einnehmenden Stimme, die manchmal weh tut, im besten Sinne. Getragen wird sie von allerlei akustischen Instrumenten, Gitarre, Piano, Drums, Harmonium, Bläser, Hackbrett, Säge. Ausnahmsweise in 2023 gibt es kein Zweifel, dass dieses Album dem Genre Folk zuzuordnen ist. Aber einem Folk, der den Namen wirklich verdient hat. Rau, entstanden weit ab von Technik, zwischen draußen und drinnen. Er lebt von der Authentizität der Stimme und der cineastischen Instrumentierung, die genau so viel will, wie sie kann. Im Vergleich zu O’Neills vorherigen, häufig eher minimalistischeren Kompositionen ist auf All Of This Is Chance diesmal nämlich mehr Platz für große Gesten und viel Klang, wie z.B. auf If I Was A Painter oder dem berührenden Old Note, das die Entfremdung von Natur und Mensch besingt – der Abschied der in diesem Stück liegt, stimmt unaufhaltsam traurig. Das Ganze auf irische Weise in einem Video veredelt von Myles O’Reilly (aka [Indistinct Chatter]), der wie O’Neill einer lebendigen irischen Folk-Szene entstammt, der man nicht genug Aufmerksamkeit schenken kann. Das Video beschreibt sehr viel von diesem Album und O’Neill. In nebligen irischen Hügeln am Meer wandert sie vor sich hin, teils tanzend, teils singend mit Blick in die Kamera. Sie hat uns etwas zu erzählen. So wie das irische Lied das schon immer tut. Hier von einem Abschied von der Natur – der beendet wird von der Stimme eines Mädchens, wie es sagt: „The Song is over, that’s so sad.“
Wenn dann schließlich auch das Album zu Ende geht mit Goodnight World wird es dann aber wieder versöhnlich, ein Wiegenlied das Ruhe gibt und in die Stille der nächtlichen Natur entlässt: „Goodnight moon and sunshine, everyone I love lies under you tonight.“
Es schließt sich damit ein großer Kreis, der zwischen Hilfeschrei, traurigem Abschied und Versöhnung sehr viel beschreibt, was vielen Menschen im Kontext der Krisen, unter denen die Erde und damit auch wir zu leiden haben, schwer auf dem Herzen liegt. Lisa O’Neill erzählt davon mit ihrer durchdringenden Art, die Hoffnung macht oder aber selbst den schlimmsten Momenten mit Schönheit begegnet.
Lisa O’Neill – All Of This Is Chance
VÖ: 10. Februar 2023, Rough Trade Records
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