Foto-© Josh Goleman
Your imagination
Is in an awful place
Don’t believe in manifestation
Your heart’ll break
Don’t you understand?
Your mind is not your friend again
It takes you by the hand
And leaves you nowhere
(The National & Phoebe Bridgers – Your Mind Is Not Your Friend)
Vor zwanzig Jahren erschien das zweite The National Album Sad Songs for Dirty Lovers. Eigentlich ist der Titel über die vergangenen beiden Jahrzehnte das Leitthema für die ehemaligen Wahl- und heute Teilzeit-New-Yorker geblieben. Mit viel Konstanz und trotzdem stetiger Weiterentwicklung feilen sie an ihrem Erbe als Könige der Melancholie.
Nur dirty ist nicht mehr so viel auf dem neunten Album First Two Pages of Frankenstein, das nach vier Jahren gespannter Wartezeit, zahlreichen Nebenschauplätzen und einer mittelgroßen Schaffenskrise diesen Freitag veröffentlicht wird. Auf dem opulenten Vorgänger I Am Easy to Find mit zahlreichen Features, den diversesten musikalischen Facetten und extremer Länge hatte man wieder mal ein gewisses, dreckiges Chaos-Element im Werk der Band finden können. Seine Entstehungszeit fiel zudem in dieselbe Phase, in der die Band den Score zu einem Cyrano de Bergerac Musical beisteuerte, in der Sänger Matt Berninger langsam sein erstes Soloalbum vorbereitete und Produzent/Gitarrist/Alles Aaron Dessner mit Justin Vernon (Bon Iver) das Projekt Big Red Machine startete. Nur ein Jahr später begann Dessner mit Taylor Swift an folklore und evermore zu arbeiten.
Wozu diese Chronologie? So zusammengetragen ist es erstaunlich, wie omnipräsent die Einzelteile von The National in der Musikwelt der vergangenen Jahre waren. Und verständlich, dass nach so viel kreativer Explosion ein Tief folgte. Ein Tief, dessen Charakter Matt Berninger am treffendsten auf den ersten Seiten des berühmten Romans von Mary Shelley beschrieben fand. Und da war das nächste Album auch schon geboren: First Two Pages of Frankenstein, das sind elf Songs, die sich um Depressionen und Zweifel kreisen – oder besser gesagt diese Themen angehen, denn gekreist wird nicht mehr viel. Das ganze Album ist on point, feingeschliffen und aufgeräumt. Da gibt es wenig Raum, sich zu verkünsteln. Der Stil ist wieder etwas poppiger, das Album hat Potenzial, sehr erfolgreich zu werden. Aber nach der kulturellen Odyssee, von der die Mitglieder mit dieser Platte zurückkehren, hätte man sich noch mehr sprudelnde Kreativität erhofft.
Dabei geht es stark los auf den First Two Songs von First Two Pages: Once Upon a Poolside ist ein atmosphärischer und dramatischer Opener mit viel Pathos, geschickt verpackt in alltäglichen Anekdoten und Gegenständen, typisch The National. Ist es eine Trennungsgeschichte, ein Rückblick, oder, wie Berninger sagt, der „prologue to a complicated mess”? In jedem Fall ist die im Song gestellte Frage „What was the worried thing you said to mе?“ im Prinzip auch die zentrale Frage an das ganze Album. Die folgenden Episoden werden diese Frage auf verschiedene Arten beantworten, mit Geschichten, Erinnerungen und Gesprächen. Auf dem Intro-Song selbst bleibt ein Wermutstropfen: Das Feature mit dem großartigen Sufjan Stevens, der Background-Vocals im Refrain beisteuert, wird leider etwas verschenkt.
Eucalyptus, die stärkste der Vorab-Singles, vereint ebenfalls Verzweiflung im Text mit Einfachheit in der Komposition und Raffinesse in der Produktion. Man merkt den Songs schon früh die große Bühne an, für die Aaron Dessner seit der Zusammenarbeit mit Taylor Swift größtenteils arbeitet. Das geht solange gut, wie die Stimme Berningers und seine narrativen Texte trotzdem im Mittelpunkt stehen. Auf diese Art fügt sich New Order T-Shirt nahtlos in den Stil der Platte ein. Der Song erzählt von Erinnerungen an eine vergangene Liebe in den kleinen Momenten: „I keep what I can of you, Split-second glimpses and snapshots and sounds, You in my New Order t-shirt, Holding a cat and a glass of beer.“
Es geht tieftraurig weiter auf This Isn’t Helping, einem weiteren Trennungs-Song. Phoebe Bridgers hat hier ihren ersten von zwei Auftritten auf dem Album, doch sie vermag die einfache Ballade nicht zu retten. Das Strumming Pattern ist uninspiriert, der Text vergleichsweise auch. Immerhin betreten zwischendurch etwas Humor und Leichtigkeit an dunklen Stellen die Bühne: „’Cause I only have two things to say to you – But you say two things about everything, babe.“ Ein wenig nötige Dynamik kommt auch durch die Beiträge von Berningers Frau Carin Besser, die seit vielen Jahren Texte zur Band beisteuert und zusammen mit ihrem Mann einige der Hochpunkte des Albums schafft, wie auf Tropic Morning News, einem Song, der von der Überforderung mit den Krisen der Welt handelt und selbstzweifelnde Charaktere aufeinandertreffen lässt, ohne sie ganz ihrer Trauer zu überlassen. Auch Your Mind Is Not Your Friend entspringt wohl direkt den Gesprächen zwischen Berninger und Besser – die titelgebende Zeile ist ein Ratschlag Bessers an ihren depressiven Mann, ein Aufruf, Distanz zur eigenen, negativen Gedankenwelt zu schaffen.
In der Mitte des Albums gibt es neben diesen Highlights leider auch Beispiele, auf denen die Einflüsse der Bandmitglieder nicht gut harmonieren. Grease In Your Hair versucht es mit überraschendem Tempo, trägt eine klare Dessner-Handschrift – nur nicht auf die gute Art. Der Song ist Leierkasten-Pop, will nicht recht zum restlichen Album passen. Und dann ist da The Alcott, das Duett mit Taylor Swift. Die Harmonie zwischen Berninger und Swift ist fantastisch, wie schon auf coney island klingen die beiden, als hätten sie ihr ganzes Leben zusammen gesungen. Einzig auszusetzen sind die langweiligen – auch auf Swifts Midnights omnipräsenten – elektronischen Drum Patterns. Ansonsten könnte der Song einer der Balladen des Jahres werden. Auf dem Album ist der Song allein deshalb ein Schlüsselmoment, weil er von einer Wiedervereinigung, einem Blick nach vorn handelt.
Das Album schließt mit Send For Me, einem geschmackvoll elektronisch untermalten, sehr stimmigem Track. Er ist eine Abschiedsnachricht an einen geliebten Menschen, ein Versprechen, immer da zu sein. Diese ruhigen, versöhnlichen Töne machen den Schluss und auch das ganze Projekt Frankenstein zu einem Komma in der Geschichte von The National – es wird weitergehen, und solange diese einmalige Gruppe talentierter Musiker in einem Raum zusammenkommt, wird sie auch hochwertige Musik veröffentlichen.
The National – First Two Pages of Frankenstein
VÖ: 28. April 2023, 4AD
www.americanmary.com
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The National Tour:
30.09.23 Berlin, Max-Schmeling-Halle
01.10.23 München, Zenith