Foto-© Jennifer McCord
Time’s up, come on out
Now I’m trapped in the grass
Not gonna laugh
Not gonna go home
Not ready for the crash
Heavy body, frozen
Hand on my wrist
Hand on my cold shoulder
Skies open up
I think I got a little older
(Half Moon Run – You Can Let Go)
Ein Notizbuch mit genialen Einfällen, die man anno dazumal dringend festhalten wollte, aber nie wieder weitergedacht hat. Eine Melodie im Kopf, schnell aufgenommen oder niedergeschrieben, aber nie ausgeschmückt. Ein Nebenprojekt, das sich nie in den Vordergrund spielen konnte und jahrelang unvollendet blieb. Die meisten Menschen, sicherlich alle Künstler:innen, kennen diese unaufgeräumten Schubladen in unseren Köpfen.
Nach über zehn Jahren Bandgeschichte hat die kanadische Band Half Moon Run ihren persönlichen Ideen-Ordner entstaubt und daraus eine Art Album über sich selbst gemacht. Was bei dieser Reise zu sich selbst herauskommen sollte: Das Wesentliche, das Gute im Kern des gemeinsamen Projekts, das Salz der Erde. Salt.
Das vierte Album der kanadischen Folk-Band um Devon Portielje ist also kein Aufbruch oder neues Kapitel. Die Band setzt weiter auf ihre Markenzeichen: Im Lead Piano und Akustikgitarren, mehrstimmiger Gesang, eingängige Folk-Melodien mit etwas Raffinesse. Damit schaffen sie neue herzerwärmende und aufwühlende Songs, die sich mit ihren besten messen können, aber das Projekt als Ganzes will nicht so richtig verfangen und rieselt stattdessen etwas vor sich hin.
Dabei sind – nicht immer das beste Zeichen – die drei Vorab-Singles die eindeutigen Zugpferde der klassisch gehaltenen 41-Minuten-LP. Da ist zum einen das überraschende You Can Let Go, das mit seinen düster-treibenden Strophen den Sound der Inwards & Onwards EP von 2021 aufgreift, um dann in einer 180-Grad-Wendung in einen Folk-Chorus zum Mitsingen überzugehen. Das spielt die größten Stärken der Band aus, die Stimme Portieljes und die Kreativität im Umgang mit einfachen Harmonien und instrumentellen Ideen.
Auch Alco ist Half Moon Run at its best. Der Song tanzt auf der Linie zwischen Magie und Melancholie wie die frühen Tracks der Band. Das wunderschön gezupfte Gitarren-Riff ist laut eigener Aussage schon zehn Jahre alt – und wurde erst im Prozess für dieses Album endlich in einen Song gegossen. Ein gelungenes Beispiel für den Versuch, Erinnerungen und Versatzstücke in die Gegenwart zu katapultieren, um die Essenz des eigenen Sounds zu finden.
Zu dieser Essenz gehören nicht zuletzt die nachdenklichen bis pathetischen Balladen (Fire Escape, Narrow Margins). Und mit Everyone’s Moving Out East hat auch das neue Album eine neue Version dieser Fan-Favoriten zu bieten. Die sensible Kombination des Gitarren-Themas und der unheimlich anmutenden Synthesizer funktioniert, die wenigen Worte von Einsamkeit und dem Verlieren alter Weggefährten sind poetisch: „As one friend went down to take a lover, One friend went down and just stayed”
Leider ist der Versuch, die eigene Sound-Essenz einzufangen, längst nicht so prägend für dieses Projekt, wie es möglich und nach den ersten Songs denkbar gewesen wäre. Spätestens nach dem ebenfalls noch überzeugenden 9beat – mit Fokus auf einer kreativen Rhythm Section und Variationen einer einfachen Klaviermelodie – verliert sich das Album etwas.
Weder können die Texte die Themen der Selbstfindung und Heimat substanziell bereichern, noch werden musikalische Ideen des ersten Albumdrittels aufgegriffen, weitergesponnen oder auch einfach zu einem Band-Best-of ergänzt. Stattdessen folgen ein paar Lückenfüller-Tracks. Der Title Track Salt zum Ende hin erinnert uns schließlich daran, wie das Album eigentlich hätte klingen können (und vielleicht auch sollen). Ein nachdenklicher Sound, der etwas mehr auf atmosphärische Klänge setzt als die Vorgänger, aber der Linie ansonsten treu bleibt. Das wäre kein spannenderes Album geworden als dieses, aber ein konsistenteres.
Für die Konsistenz verantwortlich wäre unter anderem Produzent Connor Seidel gewesen, mit dem die Band gerade erst für das Projekt The 1969 Collective kollaborierte. Das dabei entstandene Album 1969 sei an dieser Stelle wärmstens empfohlen: Eine Hommage an den Folk des titelgebenden Jahres und die kanadische Singer-Songwriter-Tradition, mit zwölf eigens komponierten Songs von zwölf verschiedenen Künstlern. Vielleicht ging alle Energie in dieses Herzensprojekt, eine ähnlich prägnante Handschrift trägt Salt nämlich nicht.
Songs wie Dodge the Rubble und Heartbeat sind keinesfalls schlecht, die Harmonie zwischen Portielje und seinen Freunden Conner Molander und Dylan Phillips ist greifbar wie eh und je. Es sind eher – und das überrascht nach der bereits erwähnten Inwards & Onwards EP – die elektronischen und (sehr entfernt) Hip-Hop-inspirierten Experimente wie Goodbye Cali oder Hotel in Memphis, die schiefgehen. Dabei mangelt es nicht an vielversprechenden neuen Ideen, nur an der Konsequenz, sie genau so auszubreiten wie diejenigen aus der Mottenkiste.
Die treue Fangemeinde, die den Quebecern seit der ersten Stunde folgt, wird noch lange zu den emotionalen Herzstücken des Albums zurückkehren, die auch für neue Hörer:innen ein guter Einstieg sind. Nur werden diese Highlights etwas verwaschen, um in den Erd- und See-Metaphern der Platten zu bleiben. Eine Richtungsentscheidung ist angesagt: Nach dem proklamierten „Graben“ in der eigenen Vergangenheit ist es nun an der Zeit für die drei Freunde, den Blick nach vorne zu richten. Denn den Höhepunkt ihres Schaffens haben Half Moon Run mit Salt (hoffentlich) noch nicht erreicht.
Half Moon Run – Salt
VÖ: 2. Juni 2023, BMG
www.halfmoon.run
www.facebook.com/halfmoonrun
Half Moon Run Tour:
21.09.23 Köln, Live Music Hall
28.09.23 München, Freiheitshalle
29.09.23 Mannheim, Alte Feuerwache
30.09.23 Berlin, Festsaal Kreuzberg
03.10.23 Hamburg, Fabrik