Foto-© Denis Schinner
Endlich öffnen sie sich wieder. Die Tore zu dem wunderschönen Grundstück des Weinguts Knyphausen. Gemütlich, aber herrschaftlich erheben sich die leuchtend gelben Gebäude umrandet von saftig grünen Wiesen und Bäumen. Von einem großen Zelt und verstreuten Essensständen umrandet erscheint der Platz vor der Bühne noch familiärer als in Erinnerung. Bunte Decken liegen ausgebreitet auf der Wiese, eine Horde Kinder sitzen auf einem kleinen Baum und genießen die beste Sicht. Jeder Act wird sie bemerken und schmunzelnd seine Bandmitglieder auf sie aufmerksam machen. Der Baum raschelt, knackt, rumpelt, kichert und lacht. Sektkorken fliegen tosend in die Luft. Man stolpert über scheinbar einsame Schuhe und findet zwischen den 2000 Heimspiel-Fans dann doch noch einen Platz, um auch seine Decke auszubreiten.
Nach einer Begrüßung durch Gastgeber Gisbert und Familie kündigt er den ersten Künstler des Tages an. Auf besonderen Wunsch ist Willy Mason aus New York angereist um uns mit seiner kraftvollen, warmen Stimme willkommen zu heißen. Fast heimlich kommen er und seine Band auf die Bühne. Gitarre, Schlagzeug und Bass füllen in Sekundenschnelle den Platz mit rockig-bluesigem Folk und genauso schnell stehen die meisten von ihren Decken auf. Willy Mason singt mit genüsslich geschlossenen Augen die Worte – “I hope the weather treats you like a friend” – und wie im Film brechen in diesem Moment die ersten Sonnenstrahlen durch die graue Wolkendecke.
Nach diesem schönen Auftakt geht es düsterer weiter. Die grandiose Band Dry Cleaning aus Süd-London stehen auf der Bühne. Zwischen Doom und Grunge breitet sich eine knisternde Stimmung aus und man wartet gespannt auf die ersten Worte der Frontfrau Florence Shaw. Sie fährt sich lethargisch durch die Haare und streckt ihre Hand in Richtung Himmel. Mit warmer, dunkler Stimme setzt ihr Sprechgesang ein und legt sich wie warme Seide über den Platz. Pointiert gestikuliert sie während sich der Bassist hinter seinen schönen langen Haaren versteckt. Der Gitarrist nimmt einen Schluck aus seiner Weinflasche. Seine mit Spinnenweben bedeckten Knie biegen und beben während er punkige, aufgeregte E-Gitarren Soli spielt. Die Menge klatscht noch lange nachdem die Band von der Bühne geht.
Abschließend kommen unter tosendem Applaus und flackernden Neonlichtern die einzig wahre Techno-Marching-Band aus Hamburg auf die Bühne. MEUTE. Das Publikum gibt noch einmal alles und wankt glücklich auf den Camping Platz oder zu Bus und Bahn und freut sich schon auf den nächsten Tag.
Der Samstag beginnt gegen 15 Uhr. Etwas zerknautscht liegen dieselben glücklichen Gesichter auf denselben bunten Decken. Der Baum raschelt, knackt, rumpelt, kichert und lacht. Pünktlich wie die Maurer stehen Juli Glide und ihre tolle Band auf der Bühne. Ihr besonderer, funkiger, deutscher Indie-Sound zeigt sich als der perfekte Start in den Tag. Wandelbar, kräftig und vor allem sympathischen überzeugt Julis Stimme. Auch die dunklere, warme Stimme der Keyboarder*in fällt besonders auf. Groovy geht ihr Auftritt zu Ende und schon stehen wieder alle.
Jetzt wird es lustig. Die toten Crackhuren im Kofferraum sind nämlich da. Choreo sitzt, Wein steht und das Publikum auch. Mit charmantem 2000er Trash-Vibe, politischer Scharfzüngigkeit, feministische Parolen und Stand-Up Comedy überzeugen die drei Frauen auf ganzer Länge. Kurz vor Schluss rufen sie dann noch zur Samenspende auf, aber nur wenn man aussieht wie Casper. Erst nach vielen vielen Zugaben verabschieden sie sich lächelnd von der Bühne.
Unter wildem Intro kommen jetzt Muff Potter auf die Bühne und mit ihnen gefeierter, traditioneller deutscher Indie-Rock. Sänger Thorsten Nagelschmidt kramt eine E-Gitarre hervor und verrät, dass sie 2003 das letzte Mal gespielte wurde und gerade von Gisberts Dachboden kam. Ein schöner Auftritt.
Jetzt muss ein totaler Genre Wechsel durchgestanden werden. Ein kurzes in sich gehen und den Atem beobachten später kommt mit Martin Kohlstedt ein persönliches Highlight auf die Bühne. Mit Klavier und Synthesizer erschafft der große, sanfte Mann Klangwelten, die zum Träumen einladen. Wahrscheinlich hätte das Setting für ihn etwas vorteilhafter sein können aber trotzdem verzaubern seine live immer wieder neu interpretierten Kompositionen alle Zuhörenden. Mit weggetretenem Lächeln und voller liebe beugt der Weimarer sich über sein Klavier und mischt Klassik mit Electronic, Jazz und Blues. Etwas in Trance versetzt verabschiedet das Publikum ihn von der Bühne und wird schon bald darauf wieder von den Füßen gerissen.
Ätna kommen auf die Bühne und mit ihnen ein transhumanistischer von Autotune geprägter Sound, der es in sich hat. Feenhaft singt das Duo aus Dresden über einen dichten Beat. Mit Diskokugelhelm und Taschenlampe ausgestattet bieten sie wortwörtlich eine Show. Plötzlich kündigen sie eine schon lange sehnlich erwünschte Kollaboration an und niemand geringeres als Martin Kohlstedt tritt abermals auf die Bühne und haut in die Tasten. Ein krönender Abschluss für einen grandiosen Festivaltag.
Und schon bricht der letzte Tag an. Um 12 Uhr stehen alle in den Startlöchern und freuen sich auf Paula Paulas atmosphärischen Indie-Folk-Pop. Die Band bei der Gisbert den Bass spielt ist zum ersten Mal beim Heimspiel und begeistert schnell mit der mal anderen Instrumenten-Wahl. Ein Cello verbreitet tiefgehende Melodien und mit der Hommage an Sineád O’Connor und dem Gesang des Publikums geht der schöne Auftritt zu Ende.
Tristan Brusch kommt allein auf die Bühne. Neben ihm ein Klavier und in seiner Hand eine Gitarre. Ruhig erklärt er, dass er heute nur seine traurigsten Lieder spielen wird, weil es ihm besonders gut geht. Er lacht und bewegt sich in Richtung Mikrofon. Mit seiner gefühlvollen, tiefen Stimme fängt er an emotional aufgeladene Songs zu singen und verbreitet eine Gänsehaut nach der anderen. Fast möchte man sagen, dass die Versionen seines 2023 erschienenen Albums Am Wahn in dieser minimalistischen Form noch besser sind als auf Platte. Viele Singen begeistert mit, andere schauen in Gedanken versunken auf die Bühne, alle genießen einen wunderbaren Auftritt.
Den Festival-Abschluss machen DOTA. Schon oft hat Gisbert versucht Dota Kehr zum Heimspiel einzuladen, dieses Jahr hat es das erste Mal geklappt. Ihre aufgeweckte, liebevolle Art und die ehrlichen Texte begeistern das Publikum sofort. Und ein Schmankerl gibt’s auch noch, denn Gisbert zu Knyphausen kommt für ein Duett auf die Bühne und wir dürfen auch seiner Stimme zum Abschluss nochmal lauschen.
Das Heimspiel Knyphausen ist ein Ort des Wohlfühlens. Nicht selten stehen Bandmitglieder am Publikumsrand, um sich die wundervollen Acts auf der Bühne selbst anzuschauen. Die Musikauswahl ist traumhaft und es ist garantiert, dass man nach den drei Tagen mit mehreren neuen Lieblingsmusiker*innen seine Playlist erweitern kann. Um die Familie Knyphausen zu wiederholen, die sich mehrmals während des Heimspiels bei allen bedankt hat, wir danken euch für so ein schönes, kleines Juwel im Rheingau. Auf das noch viele wundervolle Feste vor uns liegen.