HOLLY HUMBERSTONE – Paint My Bedroom Black


Foto-© Claryn Chong

And someday
We’ll look around to see we’ve lived another year
Someday I’ll fill the calendar
With plans for you, my dear
We’ll get room service
We’ll get room service
Where no one can reach us
Darling, we’ll blow up the speakers

(Holly Humberstone – Room Service)

Selbstzweifel. Introversion. Depression. Miese Laune. Alles wahnsinnig gefragt, man muss es nur richtig verkaufen. Die neuen 20er Jahre bringen viele schlechte Nachrichten, da ist es nicht überraschend, dass die „Sad Girl Aesthetic“ wieder auf ganzer Linie zurück ist. Und das ist wiederum definitiv eine gute Nachricht, denn traurige Menschen machen nunmal oft gute Musik.

Holly Humberstone in diesem Sinne einfach nur als Modeerscheinung abzutun, wäre jedoch ein großer Fehler. Mit 23 Jahren hat sie bereits eine beeindruckende Karriere hingelegt: Erste Singles 2020, erfolgreiches Feature mit Sam Fender 2021, auf Tour mit Olivia Rodrigo 2022. Und nach ihrer XL-EP Can You Afford To Lose Me? folgt nun ihr Debütalbum Paint My Bedroom Black.

Schon beim Titel sind wir bei der angesprochen Ästhetik, doch musikalisch ist die erste Full-Length-Platte der Britin viel mehr als dunkel, viel mehr als traurig. Auch im Vergleich zu ihren ersten Songs hat Humberstone auf ihrem Album noch einmal deutlich ihren eigenen Stil herausgearbeitet.

Kennzeichnend dafür ist vor allem die Fusion von Indie und Folk mit deutlich elektronischerem Pop. Die Ähnlichkeiten in diesem Schritt zu Lordes Melodrama, mit dem Holly immerhin aufwuchs, sind offensichtlich, doch ziehen sich nicht durch das Album. Mit ihrem eigenen, schnelleren, von deutlich vollerer Instrumentation als zuvor geprägten Sound steigt sie direkt mit zwei Hits ein. Der Titelsong Paint My Bedroom Black besticht durch eine groovige Produktion und überraschend optimistische Lyrics: „Suddenly, you don’t hate yourself, and now you’re flying“. Und die darauffolgende Single Into Your Room setzt mit dröhnenden Synthesizern direkt noch einen drauf. Sie sind das einzige, das die Ballade davor bewahrt, in den Kitsch abzurutschen. Denn inhaltlich geht es vor allem um Wiedergutmachung in einer komplizierten Liebe.

Überbordende Emotionalität bei gleichzeitigem Selbstzweifel – das ist überhaupt das Thema des Albums. In ihren Liebesgeschichten steht sich Holly überwiegend selbst im Weg, ob aufgrund ihrer Touren (wie in Into Your Room) oder ihrer Unfähigkeit, sich um sich selbst zu kümmern wie in Cocoon. Der Folk-Song – inklusive La-de-die im Refrain – zeigt nach den ersten Tracks die andere, leisere Seite der Sängerin und ist ein Highlight des Albums.

Auf dem schmalen Grat zum Kitsch bewegen wir uns aber über die vollen 40 Minuten. Meistens geht es gut, da sich Humberstone einen Trick zunutze macht, den auch Phoebe Bridgers und andere verwenden: Ein selbstkritischer, teils fatalistischer Blick auf die Welt gibt dem schmalzigen Kern einen zynischen, gröberen Kontext und macht ihn scheinbar authentischer. Songs wie Kissing In Swimming Pools oder Ghost Me plätschern trotzdem etwas dahin. Und das wäre auch der Fall für die Vorabsingle Superbloodmoon, hätte sich Holly Humberstone hier nicht Support vom Tik-Tok-Star d4vd geholt, dessen beeindruckende Stimme allein den Song trägt. Dazu hat das Duett eine der markanteren Gitarrenarbeiten auf der Platte.

Auf den übrigen Songs experimentiert Humberstone glücklicherweise mehr mit ihrem eigenen Sound, mit gemischten Ergebnissen: Die Autotune-Intros und Interludes (Baby Blues) funktionieren überraschend gut und erinnern damit mehr an mehr Kanye Wests Lost in the World als an The 1975s A Brief Inquiry…. Andererseits geht in den aufgeregteren Popsongs wie Antichrist oder Flatlining etwas Feingefühl verloren. Aus Flatlining bleibt vor allem die zu oft gehörte Zeile „We just can’t be friends anymore” hängen.

Genau zur richtigen Zeit folgt mit Elvis Impersonators einer der stärksten Songs, die Holly Humberstone bisher geschrieben hat. Er handelt von ihrem Verhältnis zur eigenen Schwester und dem Vermissen der wichtigsten Person im Leben; Verspielte Alltagsgedanken („In your shoebox apartment, Are you picking out an outfit, To go out and eat gyoza in the park?“) treffen auf die tiefen Abgründe der beiden Geschwister, die jeweils mit ihrer eigenen Psyche kämpfen und auf ihre enge Beziehung angewiesen sind („I need you next to me, I’m spiraling, I miss your bones selfishly”).

Auch der letzte Track Room Service zeigt die beste Seite der Bandbreite, die die Britin bespielen kann. Der musikalisch eher einfach gehaltene Indie-Song bewegt sich etwas abseits ihrer „Brand“ und ist vielleicht deshalb besonders wirkungsvoll. Ihr Gen-Z-Blick auf den Umgang mit Depression ist ein Tanz auf dem Schwebebalken zwischen junger Leichtigkeit und tiefer Traurigkeit: „We’ll take a trip to a place with a view, But, stay inside, watch the TV ‘cause the local news is always on”.

Mit ihren neuen 13 Songs schafft Holly Humberstone es, ihre eigene Stimme zu etablieren und sich eine erkennbare Nische innerhalb einer starken Generation junger Singer-Songwriter zu bauen. Es gelingt auf Paint My Bedroom Black nicht jeder Versuch, doch die schönsten Momente sollten noch lange Top-Spots in jeder Sad-Girl-Playlist einnehmen.

Holly Humberstone – Paint My Bedroom Black
VÖ: 13. Oktober 2023, Polydor
www.hollyhumberstone.com
www.facebook.com/hollyhumberstonemusic

Holly Humberstone Tour:
19.02.23 Hamburg, Knust
20.02.23 Berlin, Hole44
24.02.23 München, Strom
28.02.23 Köln, Gebäude 9

YouTube Video

Phillip Kaeding

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