Foto-© Trinity Ellis
Golden waters, twilight zone
I needed nature, I needed scope
Enduring present pains, in aid of future hopes
Climbin’ mountains high, slidin’ down the slopes
My heart glows like TV, I’m needy, don’t you know
But the fam beside me is what I needed most
(Sampha – Rose Tint)
Wenn aufwändigst und detailverliebt produzierte Musik in Zeiten des Bedroom Pop etwas für Nerds ist, dann ist Sampha für Nerds. Dass der britische Sänger aber ganz gegen diese Erwartung in der Breite britischen Musikszene genauso gefeiert wird wie von amerikanischen Hip-Hop-Größen, liegt an den Emotionen und der Leidenschaft, die all das Handwerk ergänzen.
Denn mit seinem zweiten Album LAHAI schreibt Sampha die Geschichte seines eigenen emotionalen Wachstums weiter. Statt eines Einblicks in seinen zutiefst aufwühlenden und von Trauer und Trauma geprägten Process, handelt der Nachfolger, auf den Fans sechs Jahre warten mussten, von der Liebe zum Leben. An zentraler Stelle auf Suspended singt der Musiker nicht umsonst: „I’ve been lifted by her love, I felt lifted from above”
Dafür brauchte es Zeit, und die nahm sich Sampha. Er lebt Zurückhaltung als Kunst, auf eine dreifache Weise: die Zurückhaltung der Emotionen im Moment, bis sie verarbeitet, kanalisiert werden können, die lange vorherrschende Zurückhaltung seines Egos und der eigenen Projekte gegenüber Kollaborationen, und Zurückhaltung als Charaktereigenschaft, die Raum für Introspektion gibt.
Vielleicht fühlt es sich aufgrund dieser Zurückhaltungen so gut an, über 40 Minuten Sampha als Hauptcharakter zuzuhören, wie er uns endlich in das einweiht, was ihn in den vergangenen Jahren umgetrieben hat. Vor allem ist das die Geburt seiner Tochter, seine Vaterschaft. Wie diese seinen Blick aufs Leben – größtenteils zum Positiven – verändert hat, verarbeitet er oft direkt, wie oben auf Suspended. An anderen Stellen finden neue Perspektiven verspielter Einzug, wie auf Jonathan L. Seagull, inspiriert vom Kinderbuch Die Möwe Jonathan, dessen Themen an mehreren Stellen auf dem Album eingearbeitet werden. Die Synth-Loops und der Chor wirken hypnotisierend und übertragen die nachdenklichen Töne der Buchvorlage in Musik.
Neben den nachdenklichen Momenten, in denen vor allem Samphas Stimme glänzt und man sich in die Zusammenarbeit mit Frank Ocean zurückversetzt fühlt (wie auf dem ruhigen Inclination Compass), gibt es auf LAHAI zahlreiche musikalische Überraschungen und Wow-Momente. Zum einen liegt das an der beeindruckenden Palette der Instrumentalisten und Produzenten, die auf den 14 Songs zusammenkommen – von den fantastischen Drummern Yussef Dayes, Morgan Simpson und Kwake Bass bis zum Produzenten Kwes, der zuletzt unter anderem Loyle Carner’s hugo produzierte und mit dem Sampha bereits seit über fünfzehn Jahren arbeitet. Er zeichnet sich mitverantwortlich für das kreative Highlight Can’t Go Back, eine Meditation über die Zukunft, die von der klassischen Klavierbegleitung immer mehr in einen Dubstep-R&B-Hybriden übergeht.
Zum anderen kommen die Überraschungen aus der eingangs beschriebenen Detailverliebtheit, mit der Sampha aus scheinbar einfachen Ideen vielschichtige Songs und erstmals auch catchy Singles geschaffen hat. Spirit 2.0 zum Beispiel, „bei einem Spaziergang im Park“ entstanden, hat in seiner finalen Version mehr von einem Kinofilm als von einem Spaziergedanken. Das Zusammenspiel der orchestralen und elektronischen Sounds lässt einen staunen, bis einen das ambience-hitting Outro von Yaeji auf koreanisch noch einmal mehr staunen lässt. Und auch Only, einer der schnellsten Songs auf dem Album, bleibt zwar inhaltlich introspektiv, ist aber mit seinem Beat und den nach vorne schauenden Lyrics („I don’t wanna judge, but I need to save my soul“) mutiger und grooviger als der „frühe“ Sampha. Hier und auf dem kurzen Interlude Satellite Business erinnert uns Sampha außerdem daran, dass er ein begnadeter Rapper ist.
Schwache Momente gibt es kaum auf LAHAI, zu perfektionistisch wurde an jeder Minute gefeilt. Dadurch fehlt vielleicht hier und da etwas Impulsives, etwas Mitreißendes. Doch dafür sind Samphas Texte so persönlich und offen wie eh und je. So bleiben zweideutige Momente, Zweifel, „What ifs“, wie Sampha sie im avantgardistischen What If You Hypnotise Me? besingt. Und auch auf dem letzten Song, Rose Tints, der vom Festhalten von Momenten und der Distanz zu den Menschen um sich handelt, werden wir nachdenklich zurückgelassen: „Lost in my own world, preoccupied with my own hurt, lost the art of connection.“
Ein wenig Unvollständigkeit, ein wenig Verlorenheit muss schließlich bleiben bei all dem Perfektionismus, das schafft Authentizität. Und wer so viel gleichzeitig schafft – Wiederholungen und Überraschungen, Emotion und Ambition, Ausgeglichenheit und Unwohlsein, grandiose Texte und virtuose Instrumentalisierung, beeindruckende Eigenproduktionen und starke Gastauftritte – darf sich für das Album des Jahres bewerben.
Sampha – LAHAI
VÖ: 20. Oktober 2023, Young
www.sampha.com
www.facebook.com/SamphaMusic
Sampha live:
04.12.23 Berlin, Theater des Westens