Foto-© Courtesy of Sufjan Stevens
If I imagine myself peaceful on the fire escape
Head first, my hands inside my T-shirt, as we run away
So now we have a running start
My body moves in mystic ways
I cross my arms to shield my heart
As everything turns into waves
I see the light upon the lake
The silver moon, the water snake
A pair of eyes, a gentle breeze
Forgotten tales, a wild beast
I know, I know the time has come to ask you for a kiss
Don’t go, my lovely pantomime, receive of me my only wish
(Sufjan Stevens – A Running Start)
Gitarre, Banjo, Piano, Orgel, Bass, Oboe, Saxofon, Querflöte, Akkordeon und Schlagzeug spielt Sufjan Stevens – unter anderem, wie sein Wikipedia-Eintrag noch verrät. Die Vielseitigkeit eines Multiinstrumentalisten kommt dem eigenbrötlerischen US-Amerikaner zugute, wenn er im stillen Kämmerlein – einem Brian Wilson oder Paddy McAloon nicht unähnlich – seine modernen “pocket symphonies to God” (oder wem auch immer) zusammenbastelt. Auch jetzt wieder, für Javelin – ein Großwerk, das Vergleiche mit den Genies von Beach Boys und Prefab Sprout durchaus zulässt.
Um ehrlich zu sein: Den ursprünglichen Singer-Songwriter Sufjan Stevens, der hier erneut alle Trümpfe ausspielt, ziehe ich seinen anderen musikalischen Anverwandlungen vor. Seit seinem Auftauchen in der US-Indie-Szene vor gut 20 Jahren musste man bei ihm ja mit allem rechnen – man wusste nie, was als Nächstes kommt. Zwischen zartestem Wisper-Folk, Neoklassik mit New-Age-Anklängen, zickiger Electropop-Avantgarde und perfekt durcharrangiertem Singer-Songwriter-Stoff war alles möglich.
Der 48-Jährige aus Detroit/Michigan gehört damit zu den großen, irgendwie spleenigen Individualisten des Indiepops, sein Werk gleicht einer Wundertüte. Und aus der hat er mit Javelin nun eine seiner schönsten Songsammlungen herausgezaubert. Es sind wieder mal fabelhaft ausgereifte Songs voller melodischer Höhepunkte und bewegender Stimmungen – oft in der Tradition seiner frühen Folkpop-Highlights Michigan (2003), Seven Swans (2004) und Illinois (2005), mehr aber noch im Gefolge des tiefgründigen Singer-Songwriter-Geniestreichs Carrie & Lowell (2015).
Mit Goodbye Evergreen und A Running Start hat Stevens zwei der besten Songs seiner Karriere gleich an den Beginn von Javelin gestellt. Wie der Soundtüftler hier nach zunächst reduzierten, sehr intimen Akustik-Intros mit immer mehr Instrumenten und Chören seine gewaltigen Klang-Kathedralen baut, ist wirklich hohe Kunst. Klar, man sollte schon ein gewisses Faible für Bombast nahe der Kitsch-Grenze haben – dann aber steht dem Hochgenuss nichts mehr im Wege.
Wie die traurige Familiengeschichte von Carrie & Lowell ist Javelin textlich ein sehr persönliches Album. Will Anybody Ever Love Me? oder So You Are Tired etwa klingen wie Gebete oder doch zumindest sehr anrührende Bekenntnisse. Sufjan Stevens hat wieder mal ein von seiner komplexen Persönlichkeit tief durchdrungenes Solo-Werk geschaffen. Fremdbeiträge stammen lediglich von einem engen Freundeskreis – von Adrienne Maree Brown, Hannah Cohen, Pauline Delassus, Megan Lui und Nedelle Torrisi, die die prägnanten Chor-Vocals beisteuern, sowie vom unermüdlichen Bryce Dessner (The National), der bei Shit Talk Gitarre spielt.
Sufjan Stevens – Javelin
VÖ: 06. Oktober 2023, Asthmatic Kitty
www.sufjan.com
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