Foto-© Peter Crosby
Oh, I can take a joke but my clothes are all soaked
It’s too late to be unclear
I’d laugh until I’d die if it wasn’t my life
If it wasn’t me in the mirror
Am I ever going to see you again?
Maybe I’m a whistle on a lonely old train
I’m crying all the time
Listen to the sound getting further away
Fading deep into the night
Am I ever going to see you again?
I’m evicted
From your heart
I deserve it
(Wilco – Evicted)
Sie füllen keine Stadien (sondern “nur” mittlere bis große Hallen). Sie haben keine Hits (weil sie es mit ihren nie auf den Kommerz schielenden Single-Auskopplungen auch kaum darauf anlegen). Und sie versprühen keinen Glamour (außer vielleicht den von netten Normalo-Kumpels, die optisch ganz unspektakulär daherkommen, aber wahrlich spektakuläre Musik machen). Dennoch werden große Musikmagazine wie Uncut, Mojo und Rolling Stone nicht müde, von der zurzeit besten oder zumindest wichtigsten Rockband der Welt zu sprechen, wenn es um Wilco geht.
Für das neue, das 13. Album des US-Sextetts aus Chicago könnten nicht nur diese Experten wieder nach Superlativen suchen. Denn Cousin ist ein dermaßen schönes, zugängliches und zugleich wagemutiges Meisterwerk, dass es auch langjährigen Wilco-Kennern die Sprache verschlägt. Prächtige warme Melodien und tiefschürfende Texte, fabelhaft einfallsreiche Arrangements und tolle experimentelle Ausbrüche, die man einer seit insgesamt 30 Jahren existierenden, davon zwei Jahrzehnte in derselben Besetzung spielenden Band eigentlich gar nicht mehr zutraut – alles ist wieder da, nur wenige Monate nach dem gemütlicheren, gleichwohl ebenfalls herausragenden Folk-/Countryrock-Vorgänger Cruel Country (2022).
Jeff Tweedy, der 56 Jahre alte Gründer, Sänger und Songwriter von Wilco und deren uneingeschränktes Zentrum und Sprachrohr, hatte im Vorfeld der Cousin-Veröffentlichung in einem Interview von jener mysteriösen, im Studio ausgetüftelten “Artpop-Platte” gesprochen, die wegen des unmittelbareren, lässigen Charakters von Cruel Country dann aber zunächst auf Eis gelegt wurde. Dieses Album hat die Band nun fertiggestellt – womit sich auch die Produktionsdaten 2019-2023 erklären.
Im Chicagoer Aufnahmestudio The Loft mischte bei den Cousin-Sessions von Anfang an die junge walisische Multiinstrumentalistin Cate Le Bon mit – für Wilco eine unerwartete Rückkehr zu fremder Produktions-Hilfe nach 20 Jahren Tweedyscher Eigenbrötelei. Dass angesichts der Freigeistigkeit und der stilistischen Offenheit dieser zehn Songs ein würdiger Nachfolger für legendäre, unkategorisierbare Werke wie Yankee Hotel Foxtrot (2002), A Ghost Is Born (2004) oder The Whole Love (2011) vorliegt, wird viele Fans freuen, die Wilco schon lange als die amerikanischen Radiohead feiern und diese kühne Experimentierfreude zuletzt ein wenig vermisst hatten. (Auch wenn Klasse-Alben wie Ode To Joy von 2019 oder besagtes Cruel Country natürlich immer noch weit genug weg waren vom Folkrock- und Singer-Songwriter-Mainstream.)
“Das Erstaunliche an Wilco ist, dass sie alles sein können”, sagt die von Tweedy seit einem gemeinsamen Festival 2019 hochgeschätzte Cousin-Produzentin Le Bon. “Sie sind so wandelbar, und es gibt diesen Faden der Authentizität, der sich durch alles zieht, was sie tun, egal welches Genre, egal wie die Platte klingt. Es gibt nicht viele Bands, die in der Lage sind, die Dinge erfolgreich zu verändern, obwohl sie so lange in einer herausragenden Karriere stecken.” Die gegenseitige Zuneigung der talentierten Britin und der erfahrenen US-Amerikaner ist in jeder Sekunde eines gemeinsamen Albums spürbar, das sich am Jahresende auf vielen Bestenlisten wiederfinden wird.
Was macht nun den ganz besonderen Zauber von Cousin – auch innerhalb des qualitätvollen Wilco-Gesamtkatalogs – aus? Es ist wohl die perfekt ausgewogene Mixtur aus folkiger Harmonie und Gitarren-Avantgarde, gekrönt von Tweedys waidwunder, tief berührender Stimme, wie im grandiosen Opener Infinite Surprise. Oder die beatleske Erhabenheit des zweiten Tracks Ten Dead, in dem der Sänger seine Erschütterung über die Empathielosigkeiit vieler Amerikaner trotz so unfassbar vieler Schusswaffenopfer schildert. Ein politischer Song ohne platte Polemik – ja, so kann man das machen.
Auch Levee ist so ein Musterbeispiel für höchste Kompositions- und Produktionskunst – wieder lässt Tweedy die vorhersehbare Melodie links liegen und gerät doch nie in den Verdacht, hier abgehobene Kunst-Kacke zu produzieren. Evicted ist (neben dem wunderbaren Sixties-Pop-Track Soldier Child kurz vor Schluss des Albums) eines von wenigen Liedern, die auch auf dem rustikaleren Vorgänger Cruel Country ihren Platz gefunden hätten.
Weitere Highlights eines an Höhepunkten fast überreichen Albums sind das spätsommerlich melancholische Sunlight Ends, das verspielte, ins Jazzige mäandernde A Bowl & A Pudding (wie auch andere neue Stücke eine Plattform für die Sonderklasse des Wilco-Gitarrengroßmeister Nels Cline), und das magische Pittsburgh, das zwischen zartem Folk im Stil von Nick Drake und ambitioniertem Prog-Rock oszilliert. Der Titelsong versucht sich an Glamrock – dass die Wilco-Musiker Fans von David Bowie sind, weiß man schon länger, dennoch ist dieses Stück vielleicht das einzig annähernd verzichtbare.
Mit Meant To Be, das noch einmal an die Verbundenheit mit den “Fab Four” oder The Byrds erinnert, klingt ein famoses Werk der (hoffentlich) mittleren Wilco-Karrierephase aus. Tweedy, Cline sowie Mikael Jorgensen (Keyboards), Pat Sansone (Gitarre, Keyboards), Glenn Kotche (Schlagzeug) und John Stirratt (Bass) haben sich mit Cousin ein weiteres Mal selbst übertroffen. Wieder testen die sechs Virtuosen hier Grenzen eines zeitlosen, melodischen Folkrock aus – und wecken Vorfreude auf ihre nächsten Gigs, bei denen die neuen Lieder einem Live-Test unterzogen werden, um als Klassiker im riesigen Wilco-Repertoire weiterzuleben.
Die beste Rockband der Welt? Ja, wer denn sonst.
Wilco – Cousin
VÖ: 29. September 2023, dBpm
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