LOL TOLHURST x BUDGIE x JACKNIFE LEE – Los Angeles


Foto-© Louis Rodiger

Why is the chairman vaccinated if he’s so goofy
Why are the Germans fascinated by piss and dookie
Oh we in Japan now my man, get lagged and loopy
A gent gives me tickets to an event Kake kabuki

(Lol Tolhurst x Budgie x Jacknife Lee – Travel Channel)

Songs über Los Angeles gibt es viele. Einer ist Screenwriter’s Blues von Soul Coughing aus dem Jahr 1994. In ihm verarbeitet Frontmann Mike Doughty seine Eindrücke mit Sprechgesang. „It’s 5am, and you are listening to Los Angeles“ – diese Zeile kennt jede(r). Doughty ist genervt wegen des Typen im Radio, der Filmindustrie, der Reizüberflutung, der ganzen Atmosphäre. Sein Problem: Heute assoziieren ihn alle zuerst mit diesem einen Song, der nach einem Kurzbesuch in Kalifornien entstanden ist. Mit seinem Leben in New York habe alles gar nichts zu tun, das frustriere ihn völlig. Tja, Mike, dumm gelaufen.

Jetzt lästert wieder einer über die City of Angels, der an der Ostküste zu Hause ist. Es ist James Murphy, bestens bekannt als Anführer von LCD Soundsystem. „Los Angeles eats its children, Los Angeles eats its young, Los Angeles she don’t need water, Los Angeles just needs guns“, lässt er wissen, bevor er resümiert: „No, I don’t need your atmosphere, I’m better off alone.“ Der Track ist wichtiger Baustein in einem Projekt, das brauchte, um zu wachsen. Initiator war Lol Tolhurst. Der Drummer, bis 1989 bei The Cure, lebt seit geraumer Zeit – richtig – in L.A. Budgie spielte dort Ende 2018 als Mitglied in John Grants Band. Früher trommelte er für Siouxsie. Beide Männer sind nach über vierzig Jahren Musikmachen nicht müde und verabredeten sich. Ursprünglich war Kevin Haskins von Bauhaus als dritter Drummer angedacht. Man verbreitete auch im Haus von Tommy Lee Angst und Schrecken, bei der alten Skandalnudel von Mötley Crüe. Das funktionierte natürlich nicht.

Das Trio wird nun durch Garret „Jacknife“ Lee komplettiert. Sein Studio steht im Topanga Canyon, seine Arbeit ist bei der Prominenz (U2, Snow Patrol, The Killers) sehr beliebt. Los ging’s bei ihm Anfang der Neunziger bei der ruppigen Indie-Band Compulsion. Lee ist ein Mann einer anderen Generation, genau das reizte Tolhurst und Budgie. Er bedient wie sie Schlagzeug, Perkussion und Keyboards, übernimmt als Produzent aber auch bereitwillig die Vermittlerrolle. Erst sah es so aus, dass aus allem ein instrumentales Album wird. Während der Pandemie konnte man nachjustieren. James Murphy kam als erster Sänger hinzu. Von da an engagierte man für jeden Track andere Gäste.

Bobby Gillespie hört man in This Is What It Is (To Be Free). Die Stimme ist unverkennbar, der Spirit des hageren Schotten ebenso. „It’s hard to fit in when you feel so strange, suppressed emotions mark a chemical change, oh oh locked down to your soul“, offenbart er. Man müsse sich von düsteren Dämonen lösen, mit denen man sich herumplagt. Feeling, das an Movin’ On Up auf Screamadelica erinnert, leistet Hilfe. Danach wird es stürmischer. In Uh-Oh hört man Arrow De Wilde von Starcrawler und Mark Bowen von Idles. Es ist ein herrlich fieser Einpeitscher mit kratziger Gitarre, glasklarer Rock’n’Roll-Radau. In Ghosted At Home steckt eine andere Form von sonischer Gewalt. Gillespie singt wieder, dieses Mal begleitet von einem bombastischen Hip-Hop-Beat, mit dem die Chemical Brothers sonst gerne überrumpeln.

Im weiteren Verlauf fällt nichts ab. Zwischentöne helfen. Bodies ist experimenteller und intensiver, nicht zuletzt wegen der Beteiligung von Lonnie Holley (dessen jüngste LP Oh Me Oh My Jacknife Lee produziert hat). Der Künstler aus Alabama parliert partiell wie ein aufgeheizter Gil Scott-Heron, Mary Lattimore spielt wunderbar Harfe und die Perkussion durchdringt Körper und Seele. Travel Channel ist ein weiterer Höhepunkt, hier hat Pan Amsterdam seinen Auftritt. Er ist ein multitalentierter Künstler und einer der besten Rapper unserer Zeit, begeistert als Mann mit Jazz-Background (Leron Thomas!) auch an der Trompete. Keine Ahnung, was ihm in unserem Land widerfahren ist (siehe Text oben). Piss and dookie – war er etwa zu lange in Berlin? Auch sonst gelingen ihm großartige Einlassungen. Hört hin.

Bei Noche Oscura (übers. dunkle Nacht) fragt man sich zuerst, ob das nun der Dark-Wave-Moment ist, der angesichts der Vergangenheit von Tolhurst und Budgie zu erwarten ist. Nix da. Das Stück befriedigt, wie das ganze Album, weder Sehnsüchte von Fans von The Cure, noch befeuert es Spekulationen über ein Revival des Gothic Rock nach dem Live-Comeback von Siouxsie im letzten Sommer. Alles hört sich mehr nach elektronischem Dance-Sound der Neunziger als nach Post-Punk der Achtziger an. Wie Musik, die Jacknife Lee solistisch zu Beginn seiner Karriere für das Label Pussyfoot aufgenommen hat. Der Ire ist sicher derjenige, der am meisten Freude an dieser Dreierkonstellation hat. Oft genug muss er im Studio voreingestellte Beats akzeptieren. Jetzt kann er elektronische Scapes mit echtem Trommelwirbel versetzen, schon klingt es flexibel, körperlich und nicht abgegriffen. Das ist ein großer Triumph.

Lol Tolhurst x Budgie x Jacknife Lee – Los Angeles
VÖ: 3. November 2023, PIAS
www.loltolhurst.com
www.jacknifelee.com
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