20 - 11
20. Haley Blais – Wisecrack
Die Vancouver Songwriterin Haley Blais hatte schon mit ihrem 2020er Debütalbum Below the Salt einen kleinen Achtungserfolg, nun kehrte sie mit ihrem Zweitwerk Wisecrack zurück, bei dem sie wieder mit einem Mix aus Dream-Pop, Indie-Rock und Songwriter-Anleihen aufwartet, wenn auch etwas düsterer und ernster als zuvor.
19. Black Honey – A Fistful of Peaches
Black Honey aus Brighton erschaffen aus kreativem Chaos eine durchgestylte Welt wie aus dem Wes-Anderson-Bilderbuch. Kettenrasseln, drei Drums übereinander, niemals gleich, roh, laut. So auch auf dem im Februar via Foxfive erschienenen das dritte Album A Fistful of Peaches, das in eingängigen Indie-Rock-Songs Troz, Mut und Verletzlichkeit vereint.
18. Tränen – Haare eines Hundes
Hier bleibt nur Linus Volkmann aus dem Musikexpress zu zitieren. Eben dort kürte er Tränen als Newcomer des Jahres und lässt seine Laudatio wie folgt beginnen: „Unter Spannung stehender NDW-Wave – mit den besten Sehnsuchts- und Wahnsinnstexten von hier bis Feuerland“. Dem möchten wir nur mitwippend beipflichten.
17. Italia 90 – Living Human Treasure
Eine Band, die nicht deshalb mit Post-Punk um sich wirft, weil es andere auch machen. Bei ihr spürt man Abneigung in jeder Pore, egal, ob es um Vorgänge in der Politik und Wirtschaft oder persönliche Belange geht. Der Beat klingt gehetzt, der Gitarrist schaltet auf Alarm, dem Sänger ist unwohl. Italia 90 liefern ein Antidot zum Irrsinn in dieser Zeit und kopieren nicht. Molto bravo.
16. Blur – The Ballad Of Darren
Irgendwann entdeckte Damon Albarn, dass er nicht nur Mitgründer der Britpop-Könige Blur, hyperaktiver Gorillaz-Boss und überhaupt einer der kreativsten Köpfe im aktuellen Pop ist – sondern irgendwie auch ein Wiedergänger des großen David Bowie. Weil’s so schön ist, hier im Original, was er kürzlich einem französischen Magazin auf die Frage nach dem Bowie-Touch der neuen Blur-Platte The Ballad Of Darren sagte: “That’s good, even if it really wasn’t a conscious choice. Let’s just say that’s how the songs come to me now, they have this shade… Bowie, I haven’t listened to him in years. I don’t need it anymore, I know it by heart. In a way, I’m David Bowie since he’s gone…” Wow, das zeugt von Mut.
An Selbstbewusstsein mangelt es dem Blur-Frontmann also nicht beim Comeback seiner seit über 30 Jahren aktiven Band. Und Albarn kann sich das leisten – sowohl den Stolz auf das neue Album (Nachfolger des ebenfalls schon tollen The Magic Whip von 2015) als auch den Vergleich mit dem größten Solo-Popstar und -Performer aller Zeiten. Denn The Ballad Of Darren ist ein fantastisches Werk geworden, ein Zeugnis der erstaunlichen Frische und Reife von vier verdienten Musikern, für die der Genre-Begriff Britpop schon lange viel zu eng ist.
15. Unknown Mortal Orchestra – V
V von Unknown Mortal Orchestra ist ein Album, das mit jedem Hören besser wird. Die Tatsache, dass sich die Band Zeit lässt, die Atmosphäre des Albums zu entfalten, trägt dazu bei. Beim ersten Mal kommt ab und an etwas Langeweile auf – musikalisch wird nicht wahnsinnig viel ausprobiert von Ruban und Co. Doch die teilweise großartigen Texte und die musikalische Konzentration auf das Wesentliche sorgen dafür, dass man gern zu den besonders starken Stellen des Albums zurückkehrt. Diese starken Stellen hätten noch mehr Prominenz verdient. In der Vergangenheit spielte das Unknown Mortal Orchestra oft mit Songideen, indem diese zuerst als rohes Instrumental in eine EP gepackt wurden, um dann auf einem Album als gewachsene Version zu erscheinen, oder umgekehrt aus einem LP-Projekt weitere Instrumentalideen gesponnen und veröffentlicht wurden (IC-01 Hanoi). Ein solcher Prozess wäre auch diesmal sinnvoll gewesen, um ein wenig mehr Kanten in den weichen Sand des Albums zu bringen. Ob es wohl Wüsten- oder Inselsand ist?
14. Jungle – Volcano
Vor zehn Jahren wurde aus den Experimenten von Josh Lloyd-Watson und Tom McFarland das Projekt Jungle, das mit seiner Ästhetik und seinem Throwback-Sound genau in die urbane Kultur der letzten Jahre passte. Der Treffer in die Mitte des Zeitgeists hält an – mittlerweile sind die beiden Londoner bei ihrem vierten Album angekommen. Und auch wenn dieses wie zu erwarten keine vollkommen neuen Kreativitätsausbrüche bietet, ist Volcano doch ein neuer Peak für die Band.
Die vierzehn neuen Songs decken – wie schon zuvor auf Loving in Stereo – die ganze Bandbreite von Hip Hop über Soul bis zu Disco ab, klingen aber eigensinniger als auf dem Vorgänger, der bisweilen wie ein akribisch geplantes Chart-Topper-Projekt daherkam. Damit schaffen Jungle geniale Momente, aber abseits von diesen wirken die Songs etwas zusammengewürfelt.
13. Slow Pulp – Yard
Klanglich erinnert das Album von Slow Pulp aus Madison, Wisconsin, die jetzt in Chicago beheimatet ist, an das gute Americana. Indie Rock, Shoegaze, Grunge und Lo-Fi – der perfekte Soundtrack für einen Herbsttag, an dem man sich auf einen Roadtrip durch die Weiten Amerikas träumt. Die aufgezwungene Isolation von Moveys wurde für die Songs von Yard freiwillig wieder aufgenommen. Das Zusammenspiel aus Isolation und Kollaboration ist genauso Thema wie Vertrauen, Liebe und Unterstützung. Eingepackt sind diese in spielerische Songs, die durch das Album tragen. Highlight der Platte ist das liebliche Carina Phone 1000 und seine Pedal Steel. Aber auch das grungige und vielleicht etwas zu schrammelig angelegte Cramps bleibt im Ohr. Broadview sticht durch seine Mundharmonika, textliche Tiefe und pure Emotion heraus. Klassischere Rocksongs wie Doubt oder Worm oder das reduzierte, aber sehr wiederholungslastige Fishes können hingegen mit den anderen Nummern nicht mithalten.
12. Wilco – Cousin
Für das neue, das 13. Album des US-Sextetts aus Chicago könnten nicht nur diese Experten wieder nach Superlativen suchen. Denn Cousin ist ein dermaßen schönes, zugängliches und zugleich wagemutiges Meisterwerk, dass es auch langjährigen Wilco-Kennern die Sprache verschlägt. Prächtige warme Melodien und tiefschürfende Texte, fabelhaft einfallsreiche Arrangements und tolle experimentelle Ausbrüche, die man einer seit insgesamt 30 Jahren existierenden, davon zwei Jahrzehnte in derselben Besetzung spielenden Band eigentlich gar nicht mehr zutraut – alles ist wieder da, nur wenige Monate nach dem gemütlicheren, gleichwohl ebenfalls herausragenden Folk-/Countryrock-Vorgänger Cruel Country (2022). Die beste Rockband der Welt? Ja, wer denn sonst.
11. BC Camplight – The Last Rotation Of Earth
Alles nicht ganz einfach für diesen Bürger. Hat für einen 43jährigen viel durchgemacht. Suff, Drogen, Angstzustände, Depression, Sozialphobie plag(t)en ihn. Hatte lange vor Trump genug vom Leben an der amerikanischen Ostküste und ging nach England, wo er wegen eines abgelaufenen Visums mal des Landes verwiesen wurde. Wie konnte es auch anders sein. Das Unglück nahm kein Ende. 2018 verstarb sein Vater, der Lockdown tat sein Übriges und dann dachte sich die Verlobte nach neun Jahren Beziehung: Schluss damit.
In so einer Lebenslage verlieren manche, sagen wir es vorsichtig, die Contenance. Brian Christinzio macht es unter dem Namen BC Camplight anders. Er nimmt die Mütze ab, reckt sich dem Himmel entgegen und feiert im Titelsong seines neuen Albums The Last Rotation Of Earth das, was er als letzte Umdrehung des Lebens empfindet. Humor ist, wenn man…ihr wisst schon. In Kicking Up A Fuss dreht Brian kurz durch. Die Suche nach einer zwischenzeitlichen Bleibe war erfolglos. Am Ende gab es in Liverpool, seinem aktuellen Wohnort, nur ein Hotel als Option. Der Chef des Hauses und die Person an der Rezeption waren einzig mögliche Adressaten für den Frust: „What do you want me to do? Start a doo-wop group and sing Oooh oooh, Oooh oooh? I need a friend.“ Über Sachbeschädigungen während des Aufenthalts ist nichts bekannt. Es ging noch mal gut.
The Last Rotation Of Earth ist ein weiteres Klasse-Album in der England-Periode dieses Musikers. Man weiß nie genau, was Brian im Schilde führt. Ein überraschender Break ist immer möglich, ein exzentrischer Schlenker, ein strukturelles Wagnis. Trotzdem passt alles, gibt es überall markante Punkte oder Passagen, in die man sich verliebt. Sogar die Plattenfirma nickt. „Ein Mitarbeiter des Labels hat mir gesagt, dass sich das hier zu einer Art Chart-Hit entwickeln könnte“, offenbarte Brian jüngst in einem Interview. Stimmt absolut. Mit diesem Album spielt sich der permanente Außenseiter weiter in den Mittelpunkt.