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10. Nation Of Language – Strange Disciple
Pünktlich zum Herbstanfang lieferte die New Yorker Band Nation Of Language den Soundtrack für kürzere Tage und lange Nächte, sehnsüchtig-verspielt und voller 80ies-Nostalgie. Ihr drittes Album Strange Disciple webt einen stimmungsvollen, schwermütigen Klangteppich aus Synth-Sounds, tiefsinnigen Lyrics und markanten Basslines, bei dem aber immer auch ein hoffnungsvolles Licht am Ende des Tunnels zu schimmern scheint. Dabei beeindruckt vor allem die Stimme des Sängers Ian Devaney, die tief, aber knabenhaft und warm ganz nach typischen Achtzigern klingt, wie bei Camouflage oder Tears For Fears, und dadurch perfekt und berührend eine unstillbare Sehnsucht und ungreifbare Träume zum Ausdruck bringen kann.
Insgesamt zeigen sich auf Strange Disciple also eklektische Einflüsse, die aber alle in einer gewissen 80ies-Nostalgie wurzeln. Dabei bilden die Songs trotz ihrer unterschiedlichen Anleihen einen einheitlichen, beinah meditativen Klangteppich, getragen von einer melodramatischen, aber auch poppigen Stimmung. Schwermut und Optimismus vermischen sich in der Musik sowie in den poetischen und eindrücklichen Texten; besonders Fans von M83, Bloc Party, Ezra Furman sowie generell den Achtzigern dürften voll auf ihre Kosten kommen.
9. PJ Harvey – I Inside The Old Year Dying
Am 7. Juli 2023 erschien PJ Harveys zehntes Studioalbum – ihr erstes nach sieben Jahren. Und auch wenn sie im Laufe ihrer Karriere immer Wert gelegt hat, sich neu zu erfinden, ist I Inside the Old Year Dying ein besonders tiefer Einschnitt in die PJ-Harvey-Hörgewohnheiten. Das sei auch dem Aufnahmeprozess und der Beziehung geschuldet, die Harvey mit ihrem langjährigen Kollaborateur John Parish und Producer Flood hat. Sie sagt: “The three of us come together and we all want the same thing – to challenge ourselves and not repeat ourselves.“ Das ist gelungen, auch weil sie sich erlaubt haben, loszulassen und live aufzunehmen – spontane Emotionen, Ideen und Arrangements, aufgenommen im Moment der Entstehung. Die Geschichte dieses Albums ist allerdings weniger spontan und beginnt schon 2017. Harvey hatte gerade die Tour zum Album The Hope Six Demolition Project beendet und fühlte sich ausgebrannt, entfernt von ihrer Kunst. Unter dem Mentoring des schottischen Lyrikers Don Paterson schrieb sie ihren zweiten Gedichtband Orlam, der zur Inspirationsquelle des Albums wurde. Die Songs selbst seien dann innerhalb von drei Wochen aus ihr herausgepurzelt.
Nicht nur klanglich ist ihr zehntes Album ein neuer Aufbruch. Auch inhaltlich hat PJ Harvey eine neue Perspektive eingenommen: Vom Großen ins Kleine handelt I Inside the Old Year Dying von ihrer Heimat Dorset: „I instinctively needed a change of scale. There was a real yearning in me to change it back to something really small – so it comes down to one person, one wood, a village.” Die Texte – teilweise im örtlichen Dialekt verfasst – sind so kryptisch wie nie. Eine Verschmelzung ihres Schaffens als Lyrikerin und Musikerin. I Inside the Old Year Dying ist eine vielschichtige Herausforderung, die Fragen offen lässt, klangliche Grenzen auslotet und sich doch so einnehmend präsentiert, dass der Geist unwillkürlich mitwandert.
8. Boygenius – The Record
Das Talent, aus dem boygenius schöpfen können, ist in der Zeit seit der Gründung mehr als bekannt geworden. Phoebe Bridgers wurde mit Punisher zum Grammy-nominierten Superstar, Lucy Dacus und Julien Baker haben sich mit erfolgreichen dritten Alben (Home Video & Little Oblivions) endgültig etabliert und spielen einen volleren Sound. Das ist die großartige Ausgangssituation: Keine der drei braucht die Gruppe für einen Karriere-Boost, alle fliegen auf einem Hoch.
Deshalb gibt es wenige Statements und wenig Konzept auf the record, der ersten Veröffentlichung der Gruppe seit der selbstbetitelten EP 2018. Es geht um die tiefe Verbundenheit der drei Künstlerinnen. Und mehr braucht es auch nicht, wenn so viel queere, wütende, verletzliche, versöhnliche, reflektierte, auflehnende, anklagende, liebevolle und harmonische Energie zusammenkommt. the record wird seinem Namen gerecht, es ist Epitom des Contemporary Indie (mit allen Stärken und Schwächen).
Die 12 Songs des Albums zeigen eine beeindruckende Bandbreite und holen mit Sicherheit Fans aller drei Sängerinnen ab. Die Kombination aus reifem, perfekt intoniertem Folk, etwas Emo-Rock und Bedroom Pop mit einer deutlich zurückhaltenderen elektronischen Komponente als auf den letzten Phoebe Bridgers Songs geht dabei runter wie Öl. Die Gruppe findet immer neue Varianten der Zusammenarbeit und des Zusammensingens. Je mehr Rock sie dabei wagen, desto besser klingen sie. Doch egal in welcher Variation, boygenius nehmen sich Raum und Zeit für sich selbst, für Reflexion und ausgebreitete Leadgitarren. Sie sind sie selbst, und bleiben es hoffentlich noch eine Weile – einzeln wie als Gruppe.
7. Caroline Polachek – Desire, I Want To Turn Into You
Desire, I Want To Turn Into You wurde wohl gerade auch aufgrund seiner kunstvollen Außergewöhnlichkeit zum Hit; auf den ersten Blick klingen die Songs zwar manchmal nach konventionellem Pop, aber dieser Eindruck wird schnell vertrieben durch einen spitzen Sirenenschrei, einen ungewöhnlichen Beat, einen dissonanten Chor oder eine originelle Melodie auf einem raren Instrument. Die eklektischen Einflüsse aus verschiedensten Genres verbindet Polachek gekonnt mit ihrer kühlen, aber selbstbewussten und extravaganten Ausstrahlung. Das Album wird trotz Exzentrizitäten nie zu abgedroschen oder unzugänglich, sondern bleibt stets fesselnd, und man ist gespannt, was im Song als nächstes passiert – diese Fähigkeit, zu überraschen, ist selten geworden in der Formelhaftigkeit des Pop-Business.
6. The National – Laugh Track
Ein geschäftiges Jahr für Matt Berninger, Aaron Dessner und co. geht zu Ende. Nach ihrem gemischt aufgenommenen First Two Pages of Frankenstein überraschten sie im September mit Laugh Track, das deutlich mehr als nur ein Nachklapp zum ersten Album ist. Die losere Struktur und breitere Songauswahl lockert den Sound der Band auf, und sie klingt wieder frisch, ohne dabei das melancholische Trademark zu verlieren. Der titelgebende Laugh Track mit Phoebe Bridgers und der opulente Smoke Detector sind echte Highlights.
5. ANOHNI AND THE JOHNSONS – My Back Was A Bridge For You To Cross
Nach sieben Jahren veröffentlichte ANOHNI in 2023 ihr nun sechstes Studioalbum My Back Was A Bridge For You To Cross via Rough Trade Records. Und selbst Kenner:innen von ANOHNIs Schaffen sollten überrascht sein: Zum ersten Mal seit 2010 (Swanlights) trägt ein Album wieder den Zusatz “and the Johnsons” als Anspielung auf ihre Ursprünge und als Wiedergeburt zu Ehren von Marsha P. Johnson, der Pionierin für die Rechte von queeren Menschen. Ihr Foto schmückt auch das Cover. Erstmals bei einem Johnsons-Album produzierte ANOHNI nicht selbst und auch der hochkarätige Soul-Produzent Jimmy Hogarth (Amy Winehouse, Duffy, Tina Turner) war nicht unbedingt die offensichtliche Wahl, nachdem sich ANOHNI mit ihrer Solo-Platte HOPELESSNESS (2016) elektronischen Klängen und Protestsongs zuwandte. Wenn die britische Wahl-New-Yorkerin allerdings den Entstehungsprozess beschreibt, passt es plötzlich wieder: akribisch, aber ebenso inspirierend, freudig, intim, erneuernd sei er gewesen. Und das Ergebnis ein Statement dazu, wie sie die Welt sieht. “I’ve been thinking a lot about Marvin Gaye’s What’s Going On. That was a really important touchstone in my mind. Some of these songs respond from the present day to global and environmental concerns first voiced in popular music over 50 years ago.” ANOHNIs Weltanschauung durchdringt die zehn Lieder des Albums. Sie sind ihr Kommentar zum Verlust geliebter Menschen, zu Ungerechtigkeiten, Entfremdung, Akzeptanz, Grausamkeit, Umweltzerstörung, dem Future Feminismus und der Notwendigkeit, unsere Denkweisen, spirituellen Ideen und gesellschaftlichen Strukturen wie auch unsere Beziehungen in Einklang mit dem Rest der Natur bringen zu müssen.
4. Slowdive – everything is alive
Dass manche junge Rockmusiker in den 80er und 90er Jahren vor lauter Schüchternheit auf ihr Schuhwerk schauten statt ins Publikum, hat einen schönen Subgenre-Begriff abgeworfen: Shoegaze. Letztlich ging es um “sehr schwelgerische Musik, zumeist durch dichte, aber melodische, extrem mehrstimmige Gitarrenwände gekennzeichnet, die mit Hilfe elektronischer Effektgeräte und Synthesizer erzeugt” wurden, wie ein Wikipedia-Eintrag hilfreich zusammenfasst. Dieser nennt als Band-Beispiel an erster Stelle: Slowdive.
Mit Souvlaki (1993) und Pygmalion (1995) hatten das Readinger Quintett bereits mindestens zwei Shoegaze-Meisterwerke auf seinem Konto, ehe es sich nach längerer Trennung 2014 wiedervereinigte. Dem selbstbetitelten, weithin gefeierten Comeback-Werk von 2017 folgt nun mit everything is alive ein erneut starker, den Verdiensten von Slowdive angemessener Longplayer – selbst wenn der Zauber des Neuen nun – 30 beziehungsweise sechs Jahre später – bereits zweifach verflogen ist.
3. Mitski – The Land is Inhospitable and so are we
Ein dramatischer Albumtitel, ein dramatischer Auftritt auf dem Plattencover, und dann auch noch großteils dramatische Musik: Mitski, das Songwriter-Naturtalent aus New York, geht auf ihrem neuen Studiowerk in die Vollen. Dabei nähert sie sich zeitweise dem großformatigen Pop einer Angel Olsen oder einer Natalie Mering alias Weyes Blood an – ohne ganz die Wirkung von deren jüngsten Meisterwerken zu erreichen. Ein Zeugnis der stetig wachsenden Reife und Klasse dieser 32-jährigen Musikerin ist The Land Is Inhospitable And So Are We aber allemal.
“Das Land ist unwirtlich, und wir sind es auch” – diese ungemütliche These stellt die 1990 als Mitski Miyawaki in Japan geborene, laut Pass nun Mitsuki Laycock heißende Sängerin zunächst mal lässig in den Raum. Und verbiegt sich für das Cover-Artwork, auf einer Treppe balancierend, in einer ungemütlich wirkenden Tanztheater-Pose. Der Opener Bug Like An Angel bestätigt sogleich den selbstbewussten Ansatz des siebten Albums seit dem im Eigenvertrieb veröffentlichten Lush von 2012: Zu spartanischen Gitarrenakkorden und Mitskis schöner, klarer Stimme gesellt sich, wie aus dem Nichts, ein mächtiges Chorarrangement. Also es gibt Platten, die mit weniger Überwältigungspozenzial starten.
Die großorchestral auftrumpfenden Tracks When Memories Snow und Star sind letztlich die besten Lieder dieses spannenden Albums – zwei an die epische Grandezza des Scott Walker der späten 60er gemahnende Geniestreiche von allerdings nur knapp zwei beziehungsweise drei Minuten Dauer. The Frost könnte vom Titel her kühl und abweisend klingen, ist aber mit seinem Country-Folk-Flair das genaue Gegenteil.
Mitski lässt sich eben nicht immer einfach durchschauen und schon gar nicht leicht kategorisieren. Das macht ihr neues Album über die gesamte kompakte Spielzeit von rund 30 Minuten zu einem gelegentlich rätselhaften, aber stets nachhaltigen Vergnügen.
2. Blondshell – Blondshell
Es fühlt sich mittlerweile an wie eine andere Ära, doch vor gerade einmal drei Jahren waren weltweite Quarantäneregelungen und Ausgangssperren im Zuge der COVID-Pandemie zugange. Die vollkommen neuartige Erfahrung, mehr oder weniger eingepfercht im eigenen Zuhause zu sein, generierte bis Ende 2021 ein kleines Subgenre, die Lockdown Albums. Es waren – neben vielen tränendrüsenmassierenden Choraktionen – vor allem einfach produzierte, auf die Bedroom-Pop-Welle springende und emotional ungefilterte Projekte, die den Nerv der Zeit trafen, zum Beispiel Charli XCX‘ How I’m Feeling Now oder Little Simz‘ Drop 6, in Deutschland AnnenMayKantereits 12.
Rückblickend ist noch etwas anderes passiert in dieser Zeit, es gibt Bands und Künstler:innen, die musikalisch in den Corona-Jahren sozialisiert wurden, Lockdown Artists. Die Beklemmungen und existenziellen Ängste des jungen Jahrzehnts wurden für manche nicht ein Kapitel, sondern waren der Prolog für die Karriere. So in etwa liest sich der Weg, den Sabrina Teitelbaum 2020 einschlug, als sie sich von ihrem früheren Künstlernamen BAUM und dem damit verbundenen soften Pop verabschiedete und Blondshell startete. Ein paar Lockdowns, Krisen und Jahre später erblickte das selbstbetitelte Corona-Kind nun das Licht der Welt. Den Schmerz war es wert. Im Interview mit Bedroomdisco sagt Sabrina Teitelbaum: „I finally figured out who I am as a musician. That is when I decided to throw everything away from before and start over.”
Mit ihrem Debütalbum etabliert sich Blondshell auf einen Schlag in der Alternative Rock Welt. Sie liefert eine sensible Mischung aus introspektiven Balladen und 90er-inspirierten Hymnen. Die neun Songs auf Blondshell sind von stark unterschiedlicher Denkwürdigkeit, doch die Highlights tragen die gebürtige New Yorkerin hoffentlich auf jede Artists to Watch Liste.
Insgesamt aber ist Blondshell ein fantastisch von Yves Rothmann (Girlpool) produziertes Album, das sich – ob gewollt oder nicht – perfekt in das Female Rock Revival der letzten Jahre einfügt. Gleichzeitig ist vor allem auf den oben genannten Singles Sabrina Teitelbaums eigener Stil schon sehr stark herausgearbeitet. Das Label Geheimtipp wird sie nicht lange mit sich tragen.
1. Angie McMahon – Light, Dark, Light Again
Die australische Künstlerin nahm für ihr Zweitwerk die erzählerische Kraft ihres Solo-Debüts Salt (2019), setzte noch eins drauf und schrieb ein Album voller Kraft, Zuversicht und Überraschungen. Das Album handelt davon, die dunkelsten Orte in sich selbst aufzusuchen, sich seinen Ängsten zu stellen und zu lernen, dass diese als Portal zu etwas Größerem, Hellerem und Besserem dienen können. Gleichzeitig verliert sie sich darauf und heilt sich auf wundersame und bedächtige Art wieder: Nachdem sie das Gefühl hatte, dass ihr Leben aus den Fugen geraten war, wandte sich die Musikerin der Natur zu – dem Zwitschern der Vögel, dem Wiegen der Bäume, den Bewegungen des Meeres. Die stillen, aber transformativen Offenbarungen, die sie in dieser Zeit über das Leben hatte, sind in die 13 Songs auf Light, Dark, Light Again eingeflossen. Hier untersucht sie die Beziehung zu sich selbst und findet einen Weg, mit dem, was sie ist und was auch immer die Zukunft bringt, zurechtzukommen. Die ruhige Poesie von McMahons Texten wird jedem, der sich seinen eigenen Ängsten stellt, als Boje dienen und ihn ermutigen, weiterzumachen.
Das neue Album ist daher ein tief durchdachtes Werk, das langsam und zielstrebig über ein weiteres Jahr hinweg zwischen McMahons Heimatstadt Melbourne im Bundesstaat Victoria und der Stadt Durham in North Carolina aufgenommen wurde. In Durham, wo die meisten Stücke des Albums entstanden, arbeitete McMahon mit dem renommierten, für einen Grammy nominierten Produzenten und Songwriter Brad Cook zusammen, der bereits für Bon Iver, Waxahatchee, Kevin Morby und Snail Mail produzierte. Die Studioband wurde durch den Bon Iver-Schlagzeuger Matt McCaughan, den kanadischen Singer-Songwriter Leif Vollebekk und den Megafaun-Musiker Phil Cook vervollständigt. Die Chance, ins Ausland zu reisen und mit Künstler*innen zusammenzuarbeiten, deren Arbeit sie so sehr bewundert, fühlte sich für McMahon wie die Erfüllung eines Traums an. Sie empfand es befreiend, nicht an einen festen Zeitplan gebunden zu sein, es langsam angehen zu können und auf das Timing des Universums zu vertrauen – ihre Songs in die ganze Welt zu tragen und mit neuen und alten Freund*innen zu kreieren, half ihr, diese Stücke umfangreicher, realer und klangvoller zu machen.