POOR THINGS – Filmkritik


Foto-© Searchlight Pictures

A woman plotting her course to freedom. How delightful!

(Madame Swiney – Poor Things)

Der Oscar-nominierte Regisseur Yorgos Lanthimos dreht gern exzentrische Filme: Werke wie The Lobster (2015), The Killing Of A Sacred Deer (2017) und The Favourite (2018) zeichnen sich durch schwarzen Humor, überwältigende Cinematographie und spleenige Charaktere aus. Poor Things bleibt diesem Rezept treu, bringt es aber mit einer Art Odyssee bzw. der Lebensreise und Coming-Of-Age-Story einer erwachsenen Frau auf einen bisherigen Höhepunkt.

Im viktorianischen England wird der Medizinstudent Max McCandles (Rami Youssef) zum Assistent des durch Narben entstellten Chirurgen und Wissenschaftlers Goodwin Baxter (Willem Dafoe). Seine Hauptaufgabe besteht darin, diesen bei einem gewagten Experiment zu unterstützen und eine junge Frau namens Bella (Emma Stone) zu betreuen, die zwar den Körper einer Erwachsenen hat, aber geistig und motorisch noch auf der Stufe eines Kleinkindes steht. Mit Goodwins Hilfe soll sie Sprache, Kultur und Koordination erlernen und sich in die Gesellschaft einfügen. Sie entwickelt sich schnell weiter, fügt dabei allerdings alles andere als sich ein. Auf einer Reise um die Welt entdeckt Bella nicht nur fremde Länder, Kulturen und unterschiedlichste Menschen, sondern vor allem sich selbst.

Lanthimos gelingt ein schwarzhumoriges Märchen, das zwar an die reale Welt anknüpft, aber durchzogen ist von fantastischen Steampunk-Elementen. Dabei setzt er mehr oder weniger subtil filmische Stilmittel ein: je mehr Bella von der Welt versteht und je mehr sie lernt, zu sprechen und sich selbst auszudrücken, desto komplexer und emotionsgeladener wird die Musik und desto satter und vielfältiger werden die Farben; zu Beginn läuft der Film ganz in simplem Schwarz-Weiß. Die Filmsprache und die Cinematographie scheinen so mit der Hauptfigur zu wachsen.

Poor Things ist bild- und emotionsgewaltig und wird zwar nie explizit politisch, spricht aber dennoch moralische Fragen an. Bella bietet zu Beginn allen männlichen Charakteren eine Projektionsfläche für ihre jeweils eigenen Sehnsüchte und Welt- und Wertvorstellungen, wächst im Laufe des Filmes durch ihr buchstäbliches Erwachsenwerden aber immer weiter darüber hinaus – und die Männer wachsen entweder mit oder zerbrechen daran. Dabei gelingt dem Film ein schwieriger Spagat, denn Bellas Unschuld und Ahnungslosigkeit von Konventionen wirken zunächst so, als könnte sie dadurch zur leichten Zielscheibe von Übergriffen werden. Allerdings sorgt auch genau diese Unschuld dafür, dass sie nicht kontrollierbar ist und meistens Erwartungen unterläuft. Durch ihre fehlende Scham und ihre Impulsivität und Neugier stellt sie Situationen immer wieder auf den Kopf und ergreift in Momenten die Macht, in denen es gar nicht möglich zu sein scheint.

Auf ihre kindliche Art lernt Bella dabei auch soziale Ungerechtigkeit kennen und ist davon zutiefst verstört – eine anrührende Reaktion, gerade weil wir in einer immer komplexeren und vernetzteren Welt schon viel Horror gewöhnt sind und abstumpfen oder in Apathie verfallen. Dabei wird Lanthimos aber nie eindimensional moralisierend, sondern lotet auch die Nuancen und Beweggründe von Gut und Böse, von Hedonismus und Nihilismus aus.

Emma Stone meistert dabei brillant eine herausfordernde Rolle, aber auch Willem Dafoe als vom Leben gezeichneter Frankenstein ist eine geniale Besetzung. Poor Things ist darüber hinaus ein Indikator für den erfreulichen Trend, den auch Robert Eggers (The Lighthouse) oder die Filme aus den A24-Studios (Hereditary, Midsommar, Everything Everywhere All At Once) verkörpern: Immer mehr rücken exzentrische, originelle Filme ins Rampenlicht bzw. in die Mainstream-Kinos, die sich von der Hollywood‘schen Prequel-/Sequel-Melange abheben und trotzdem hohe Production Values und Top-Stars vorzuweisen haben, und nicht zuletzt natürlich – wie Poor Things – hinreißende Geschichten.

Poor Things (UK 2023)
Regie: Yorgos Lanthimos
Besetzung: Emma Stone, Mark Ruffalo, Willem Dafoe, Ramy Youssef, Jerrod Carmichael und Hanna Schygulla
Kinostart: 18. Januar 2024, Searchlight Pictures

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Tamara Plempe

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