WHITE BIRD – Filmkritik


Foto-© Courtesy of Lionsgate

We had in common one crucial thing: We had both seen how much hate people are capable of and how much courage it took to be kind.

(Sara – White Bird)

Julian (Bryce Gheisar) macht sich an seiner neuen Schule mit seiner verschlossenen Art keine Freunde. Er will lieber nicht auffallen, da er aus seiner alten Schule rausgeworfen wurde, weil er einen Mitschüler gemobbt hat. Als seine Großmutter Sara (Helen Mirren) unangekündigt zu Besuch kommt und sich nach seinem Vorankommen erkundigt, beschließt sie, ihm ihre Geschichte zu erzählen: Als Jugendliche hat sie im Elsass der 1940er Jahre den Zweiten Weltkrieg und die Judenverfolgung in Frankreich miterlebt.

White Bird verlässt diese Rahmenebene schnell, um aus der Perspektive der jugendlichen Sara (Ariella Glaser) die Erlebnisse aus jener Zeit nachzuerzählen, die zunächst nach einer normalen Jugend klingen: Schulfreundinnen, Klatsch & Tratsch, Hobbies, die erste Liebe etc. Bald schlägt der Ton des Films aber um, wenn die Nazis damit beginnen, Jüdinnen und Juden zusammenzutreiben und zu deportieren. Sara muss mitansehen, wie auf die jüdischen Kinder ihrer Schule eine regelrechte Jagd gemacht wird, bei der sie nur knapp dank der Hilfe einer Lehrerin und eines Priesters entkommen kann. Schutz und Unterschlupf bietet ihr ein Mitschüler, der wegen seiner Gehbehinderung ein Außenseiter ist: Julien (Orlando Schwerdt) versteckt Sara in der Scheune, mit Unterstützung seiner Mutter (Gillian Anderson) und seines Vaters (Jo Stone-Fewings), die schnell zu Saras Ersatzfamilie werden, nachdem ihre eigenen Eltern verschwunden sind und vermutlich deportiert wurden. Saras Leben beschränkt sich von nun an auf den Radius der Scheune. Julien versorgt sie mit Büchern, Nachhilfestunden und Papier zum Malen; die beiden freunden sich an und bauen eine gemeinsame Fantasiewelt auf, um aus der bedrückenden Realität zu flüchten.

Aktuell gibt es eine auffällige Welle an Filmen und Serien, die den Holocaust thematisieren (One Life (2023), Zone Of Interest (2023), The Tattooist of Auschwitz (2024) etc.). Vielleicht ist das bezeichnend für ein politisches Klima, in dem Autokratien und Rechtsextremismus überall erstarken und Filmemacher*innen sich dazu berufen fühlen, an die Gefahren und Lehren aus der damaligen Zeit zu erinnern. Kaum eines der Werke dürfte dabei aber so idealistisch und märchenhaft anmuten wie die Young-Adult-Romanze White Bird, auch wenn der Zweite Weltkrieg immer als dunkler Schatten über der Geschichte liegt. Der Film basiert auf dem gleichnamigen Jugendbuch von Rachel J. Palacio und ist die Fortsetzung des Bestseller-Romans Wonder (2012).

White Bird ist dabei ein hochsentimentaler Film, der zwar starke Botschaften beinhaltet, aber auch einige Male in Kitsch abdriftet. Stellenweise funktioniert das Drama sehr gut und bewegt, wie zum Beispiel bei der Durchsuchung der Schule von den Nazis, wo die Realität der Situation in ihrer Grausamkeit und Hoffnungslosigkeit den Figuren ebenso wie den Zuschauer*innen wie ein schweres Gewicht auf den Magen schlagen dürfte. Auch die schauspielerischen Leistungen überzeugen, allen voran Gillian Anderson, die wirklich alles aus ihrer relativ eindimensional geschriebenen Rolle rausholt.

Problematisch wird es jedoch, wenn der Film versucht, die psychologischen Hintergründe der Gräueltaten des Zweiten Weltkriegs zu ergründen und das Ganze dabei auf ein klassisches Gut-Böse-Schema reduziert: Es gibt Licht und Dunkelheit auf der Welt, und es gibt Menschen, die der Dunkelheit nachgeben und Hass, Grausamkeit und Verachtung in sich selbst zulassen. Der Konflikt wird so aber auf gute vs. schlechte Gefühle verlagert, und ein schlechter Mensch ist, wer den schlechten Gefühlen nachgibt; dabei wird die Banalität des Bösen außer Acht gelassen, die sich viel mehr in Apathie als in Hass äußert, viel mehr im Entpersönlichen und Enthumanisieren, dem Wegschauen und „einfach nur Befehle befolgen“. Die Nazi-Figuren in White Bird scheinen alle eine persönliche Rechnung mit Jüdinnen oder Juden offen zu haben und daher so zu handeln, wie sie handeln; sie zeigen in konfrontativen Momenten überraschende Emotionen von Wut oder Trauer, was so wirkt, als würde es immer um eine persönliche Fehde gehen statt um ein bürokratisches System der Vernichtung, hinter dem Menschen ihre Unmenschlichkeit verstecken und ihre Verantwortung abgeben können. Die Komplexität des Nazi-Apparats wird dadurch so reduziert, dass der Film mit einer schön verpackten, simplen Hoffnungsbotschaft enden kann, so als wäre die Antwort auf systemische und politische Grausamkeit und Ausgrenzung einfach mehr Liebe; was durchaus nicht falsch ist, aber vor der historischen Schwere und Tragweite des Themas bestenfalls naiv, im schlimmsten Fall etwas pietätlos wirkt.

Trotz aller wichtigen Botschaften von Mitgefühl, Hoffnung und Hilfsbereitschaft und einer ästhetisch sehr anmutigen Inszenierung fehlt dem Film also noch eine wichtige Ebene; außerdem wird die Message ein wenig dadurch unterlaufen, dass die ganze Handlung eigentlich nur dazu dient, einem privilegierten Privatschüler zu erklären, dass er andere Menschen nicht mobben sollte. Irgendwo ist White Bird eben ein klassisches Märchen: Schön anzusehen, gut erzählt und es gibt eine klare Moral von der Geschicht‘, die nicht verkehrt ist, aber etwas zu verkürzt und romantisiert.

White Bird: A Wonder Story (USA 2023)
Regie: Marc Foster
Darsteller: Helen Mirren, Gillian Anderson, Orlando Schwerdt, Ariella Glaser, Bryce Gheisar
Kinostart: 11. April 2024, LEONINE Studios

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Tamara Plempe

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