Foto-© Eva Vermandel
You said you will
You said you won’t
You can’t tell
If you don’t
You stand alone
On your own
Reaching out
Holding on
Now you will
But then you don’t
You say you want to
But now you won’t
You stand alone
On your own
Reaching out
Holding on
Don’t need no other like I need you always
(I need you always)
I need your love to silence all my shame
I need you always
(Beth Gibbons – Reaching Out)
Taylor Swift hat vermutlich schon mit ihrem aktuellen 31-Track-Mammutwerk The Tortured Poets Department mehr Musik veröffentlicht als Beth Gibbons in ihrer gesamten Laufbahn. Na gut, das ist jetzt etwas übertrieben oder zugespitzt – aber auch nur ein bisschen. Denn wie kaum eine andere Pop-Ikone der vergangenen drei Dekaden hat sich die englische Sängerin (ganz im Gegensatz zur fast schon manisch überproduktiven Frau Swift in ungefähr der Hälfte dieser Zeit) rar gemacht – und mit ihren sehr sporadischen musikalischen Duftmarken dennoch eine große Karriere hinbekommen.
Nach drei bahnbrechenden Werken im TripHop-Projekt Portishead (1994 bis 2008), einer grandiosen Kollaboration mit Talk Talk-Bassist Paul Webb unter dem Moniker Rustin Man (Out Of Season von 2002) und einer Live-Aufnahme von Henryk Góreckis Symphony No. 3 (Symphony of Sorrowful Songs) vor fünf Jahren legt Gibbons jetzt, mit reifen 59 Jahren, ihr erstes echtes Soloalbum vor. Und Lives Outgrown wird keinen Fan dieser Schmerzensfrau des modernen Pop enttäuschen, ihre immer leicht gequälte, fragile Stimme zieht auch diesmal so wunderbar runter wie von früheren Gibbons-Veröffentlichungen gewohnt.
Gerade erst konnte man die Wirkung dieses unvergleichlichen Gesangs auf einer erweiterten Wiederveröffentlichung des Portishead-Konzertklassikers Roseland NYC Live nachempfinden – da treffen Solo-Stücke wie das vorab herausgebrachte Floating On A Moment, Burden Of Life, Oceans oder der berührende, an Nick Drake erinnernde Closer Whispering Love erneut ins Mark des Hörers. “Die Lieder handeln von Mutterschaft, Ängsten und den Wechseljahren” (die Beth mal als “krasse Prüfung” und mal als “massiven Einschnitt” beschreibt, der “dich in die Knie zwingt”) sowie zwangsläufig auch von der Sterblichkeit”, schreibt Gibbons’ Label Domino.
Eine Party wird man also auch mit Lives Outgrown wohl kaum schmeißen (oder nur im Sinne von “die letzten Gäste rausschmeißen”). Das ist schwerer, zutiefst melancholischer Stoff, selbst wenn gelegentlich, etwa in Reaching Out oder dem jazzig-weltmusikalisch groovenden Beyond The Sun, sogar rhythmische Elemente auftauchen – im üblichen Sinne tanzbar ist das dann aber trotzdem nicht. Bei der musikalischen Umsetzung von Gibbons’ Song-Ideen halfen vor allem der Top-Produzent und Multiinstrumentalist James Ford sowie der Schlagzeuger Lee Harris (wie einst Paul “Rustin Man” Webb ein Mitglied der Artpop-Ikonen Talk Talk).
Die Kooperation Gibbons/Harris darf man sich als Puzzle-Arbeit für den perfekten Drum-Sound vorstellen. Die Sängerin wollte von den Breakbeats wegkommen – denn viele seien “heutzutage irritierend, weil sie so ausgenudelt wurden”. Im Studio fingen die beiden Musiker daher an, mit allem zu spielen, was gerade herumlag: eine Holzschublade, Tupperware, Dosen, Schüsseln, eine Wasserflasche. “Wir waren auf der Suche nach allem, was anders klang”, sagt Harris. Und das Label berichtet: “Um diesen neuen “holzigen” Sound weiter auszubauen, ging Beth einkaufen und kam mit einem Sack voller neuer Instrumente zurück, darunter eine Laute, ein Hackbrett und ein Ding, von dem niemand weiß, wie es heißt, das ein bisschen wie ein Kontrabass klingt, aber wie eine Ukulele ohne Bünde und mit dicken Gummisaiten aussieht und ein Albtraum ist, um es richtig zu spielen.”
Mit Ford an Bord ging die Suche nach dem passenden Klangbild weiter. Im elegisch-orchestralen Brit-Folk-Opener Tell Me Who You Are Today ist der Produzent im Inneren eines Klaviers zu hören, wo er die Saiten mit Löffeln anschlägt. “Ein anderes Mal krochen ich, Lee und Beth im Studio herum, wirbelten Röhren über unsere Köpfe und machten Tiergeräusche, um diesen gruseligen Raumklang zu erzielen.” Viel zunächst seltsam wirkende Studio-Spielerei, viel Verletzlichkeit und Schmerz, auch etwas Esoterik – aber hey, wir haben es hier mit einem Album von Beth Gibbons zu tun.
Die Entwicklung von Lives Outgrown dauerte – es geht schließlich um eine Künstlerin mit langem Atem für die künstlerische Selbsterkundung – über ein Jahrzehnt. Nicht nur weil erstmals ihr Namen allein vorne drauf steht, ist dieses Werk das persönlichste der Frau aus Exeter und Bristol. Die Musik reagiere auf eine Periode anhaltender Reflexion und Veränderung, auf “viele Abschiede”, wie Gibbons sagt: Abschiede von der Familie, von Freunden, sogar von ihrem früheren Ich. Es seien Lieder aus der Mitte des Lebens, wenn der Blick nach vorne nicht mehr so viel hergibt wie früher, und der Blick zurück plötzlich schärfer wird. “Früher hatte ich die Möglichkeit, meine Zukunft zu ändern, aber wenn man gegen seinen Körper ankämpft, kann man ihn nicht zu etwas zwingen, was er nicht will”, erklärt die Sängerin.
Wenn man sich auf diese Traurigkeit, ja Düsternis einlässt (nicht jeder mag dazu jetzt im Frühjahr und Sommer bereit sein), dann ist Lives Outgrown ein so forderndes wie gewinnbringendes Album. In jedem Fall ein Werk, das dem schmalen Katalog dieser Künstlerin qualitativ hundertprozentig gerecht wird.
Nochmal O-Ton James Ford: “Beth ist unglaublich anspruchsvoll. Sie ist sehr gefühlsbetont, was großartig ist – so sollte man auch sein. Und – wahrscheinlich mehr als jeder andere, den ich je getroffen habe – diese Fähigkeit von ihr, immer weiter zu machen und zu bohren, um etwas ganz anderes zu finden, macht sie zum Teil so gut. Ihr Durchhaltevermögen ist einfach … wow.” Freuen wir uns also schon auf das nächste Beth-Gibbons-Album in zehn Jahren oder so.
Beth Gibbons – Lives Outgrown
VÖ: 17. Mai 2024, Domino
www.bethgibbons.net
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