Foto-© Hörður Sveinsson
Remember when you’d never heard of him
Your first reaction might have been to smile
Once upon a time, your unadulterated mind
Could not conceive of something of this kind
That you would wither and die on the vine
Alabaster demon
Transmogrifying semen
Now was this in the agreement
Now I understand what she meant
Blood-soaked pathogen
Tied for first place with original sin
I really wish I’d never let him in
Now I can feel him deep down in my skin
The child catcher is alive
His shape is shifting right bеfore your eyes again
Hе’s always been there in the shadows calling out your name
When he gets hold of you no thing will ever be the same
The child catcher has arrived
(John Grant – The Child Catcher)
The Art Of The Lie, die Kunst der Lüge – wer denkt da nicht an Donald Trump? An ihm und anderen Traumata seines 55-jährigen Lebens arbeitet sich der große US-Sänger und Songschreiber John Grant auf seinem neuen Album ab. Denn Persönliches und Politisches gehen bei diesem klugen, selbstreflektierten Künstler stets Hand in Hand.
Seine fortwährende Beschäftigung mit der eigenen Homosexualität in einem erzkonservativen Umfeld ist, na klar, immer auch Kritik an den politischen Verhältnissen seines Geburtslandes, an Trump-treuen evangelikalen Christen, ihrer gänzlich unchristlichen Heuchelei und ihrem Schwulenhass. Der Albumtitel lässt sofort an einen Bucherfolg des monströsen Lügners Trump (The Art Of The Deal) denken. Songs wie Father, Mother And Son oder Daddy zeugen von erschütternden Erlebnissen aus Grants Jugend und der Auseinandersetzung, die er (mittlerweile 55) immer noch mit seiner intoleranten, vermutlich Trump wählenden Familie führt.
Der Hintergrund der sechsten Grant-Soloplatte seit dem formidablen Folkrock/Barockpop-Werk Queen Of Denmark (2010) ist also ein persönlich-politischer – klarer und wütender als je zuvor (kein Wunder eigentlich in einem Jahr, das den orangenen Psychopathen mit freimütig geäußerten Diktator-Ambitionen wieder ins Weiße Haus führen könnte). So weit, so gut – The Art Of The Lie überzeugt schon mal als inhaltlich engagiertes, textlich teilweise sensationelles Album. Das Problem beginnt mit der musikalischen Umsetzung, der Produktion, den Arrangements. Und (ausgerechnet bei diesem fantastischen Sänger) mit den Vocals.
Denn angefangen beim Electro-Funk-Opener All That School For Nothing über den an David Bowie erinnernden Midtempo-Track Marbles und einige fragile Balladen wie Father bis zum elegischen Closer Zeitgeist: Fast nie erlebt man diese wunderbare Bariton-Stimme so, wie sie eigentlich klingen könnte, stets wird sie gefiltert, gepitcht, verfremdet durch Vocoder, Autotune und andere Effekte. Damit setzt sich ein Trend zur technoid-eisigen Künstlichkeit fort, der schon auf früheren Grant-Alben wie Love Is Magic (2018) und dem ebenfalls autobiografisch geprägten Boy From Michigan (2021) zu erkennen war.
Es ist, als ob der frühere Frontmann der zu Unrecht erfolglosen Americana-Artrock-Band The Czars seinen originalen Gesang verstecken wollte. Eine melodieselige, auf Grants seidenweich-warme Stimme fokussierte Traumkombination wie mit der Dreampop-Folk-Truppe Midlake beim Solo-Debüt vor 14 Jahren – ja, das wäre mal wieder was. (Die gemeinsame Doppel-Single Roadrunner Blues/You Don’t Get To aus dem Oktober 2023 weckte leider verfrühte, falsche Hoffnungen.)
Natürlich gibt es auch auf dieser zwischen Dancefloor-Drive und cineastischer Melancholie pendelnden Platte großartige Songs – das von der schottischen Sängerin Rachel Sermanni veredelte Drama Mother And Son etwa, das quirlige Synth-Groove-Stück It’s A Bitch, der gruselige Siebenminüter The Child Catcher (mit epischem Prince-Gitarrensolo von Dave Okumu). Man könnte auch resümieren, dass John Grant mit The Art Of The Lie sein Schaffen der vergangenen eineinhalb Dekaden nochmal bündig zusammenfasst. Dennoch bleibt ein Beigeschmack, dass dieser seit langem im toleranten Island lebende Musiker sein riesiges Potenzial hier nicht abruft.
Grant hat für sein sechstes Studiowerk einzelne Songs von Talk Talk, Kate Bush, Jane Siberry, The Cocteau Twins, Dead Can Dance und Devo als Bezugspunkte genannt. “There’s a lot of amazing humour in their music but they were also serious as a heart attack”, sagt der US-Amerikaner. Humor und Ernsthaftigkeit – wer diesen in diversen Sprachen (auch Deutsch) sattelfesten, ungemein sympathischen Künstler mal im Interview erlebt hat, weiß Bescheid. Das neue Album lässt einen dennoch etwas ratlos zurück.
John Grant – The Art Of The Lie
VÖ: 14. Juni 2024, Bella Union
www.johngrantmusic.com
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John Grant Tour:
06.11.24 Köln, Kulturkirche
07.11.24 Berlin, Columbia Theater
15./16.11.24 Weissenhäuser Strand, Rolling Stone Beach Festival