CLAIRO – Charm

We can go wherever we want
The plains, the sand, the salt, the dust
You can say whatever you want
I don’t care, I’m already gone
We could drive a mile down the road
To get a drink or two, you know

(Clairo – Terrapin)

Es gibt wenige Künstler:innen, die so früh, so viel und so offen über ihren Rückzug aus der Musik gesprochen haben wie Clairo. Die Amerikanerin, die nächsten Monat gerade einmal 26 Jahre alt wird, scheint schon seit ihrem 18. Geburtstag das Ende im Blick zu haben. Noch vor zwei Jahren kündigte sie eine „längere Pause“ an, Fans spekulierten schon, ob sie vielleicht künftig im Rhythmus einer Fiona Apple veröffentlichen würde. Und dann, Anfang 2024, die Ankündigung neuer Musik. Aus dem Hinterland-Retreat in Massachusetts steigt weißer Rauch auf.

Auf dem neuen Album Charm klingt Claire Cotrill nicht wie jemand, der die Musik hinter sich lassen will. Im Gegenteil, sie scheint absolut in ihrem Element zu sein, befreit und klar. Vielleicht verstärkt sich dieser Eindruck auch durch den Kontrast mit dem nachdenklichen Pandemie-Album Sling (2021) und natürlich noch mehr mit ihrem Debüt Immunity (2019).

Deutlich wird das direkt mit Nomad, einer Folk-Nummer, die zwischen Jack Johnson und Norah Jones oszilliert. Die Stimme ruhig, nicht zu sehr in den Vordergrund gemischt, mit liebevollem Gitarrenthema. Die oben angedeuteten wiederkehrenden Gedanken an ein Leben ohne die große Karriere finden sich wenig versteckt direkt in den ersten Zeilen: „I’d run the risk of losing everything, Sell all my things, become nomadic, I’d run the risk, and just in case I might, Sell all my things and become the night.”

Bis auf die darauffolgende Single Sexy to Someone, tanzt ab hier kaum einer der elf Tracks wirklich aus der Reihe. Charm ist eine offene Soul- und Folk- inspirierte Singer-Songwriter-Platte. So schafft sie eine Ästhetik, einen eigenen Vibe. Auf den ersten Blick schrammt Clairo hier mal wieder knapp an Coffeehouse- oder Vanilla-Girl-Tropes vorbei. Doch das wird den smart bis kunstvoll produzierten Songs nicht gerecht.

Verantwortlich zeichnet sich dafür Leon Michels, der von Aloe Blacc über – ja, genau – Norah Jones bis zu seinem eigenen Projekt El Michels Affair eine ganze Reihe fantastischer Grenzgänger zwischen Soul, Jazz und Pop produziert hat. Musikalisch ist das eine deutliche Abkehr vom Jack-Antonoff-produzierten Vorgängeralbum; und es ist ein riesiger Gewinn. Besonders im Mittelteil des Albums sorgen Claire Cotrill und Michels mit einigen virtuosen Ideen für Spannung. Gerade auch das Jazz-Piano, sparsam eingesetzte Blechbläser und Flöten stechen auf Terrapin (ein Highlight!), Juna oder Thank You heraus – wobei die Spannung im Ergebnis natürlich immer noch unter einer grundruhigen, träumerischen Oberfläche stattfindet.

Am auffälligsten in all der Ruhe ist aber die Abwesenheit der allumfassenden Melancholie, die Clairo bisher ausgemacht hat. Die Tatsache, dass sich außer dem – hervorragenden – Closer Pier 4 kein einziger wirklich trauriger Song findet, ist erfrischend.

Stattdessen bekommen wir einen bittersüßen Abschiedssong wie Slow Dance mit Leichtigkeit und Weitsicht serviert, wenn Clairo singt: „And, too, when candles burn out, And the record is faded down, I know you’ve got people to turn to.” Und dann ist da eben Sexy to Someone, der Hit mit dem Funk, Clairos Bindeglied zwischen alten Unsicherheiten und neuer Extrovertiertheit, dem Leben nach der Pandemie. Denn in erster Linie geht es ihr auf der Suche nach dem Sexy-für-jemanden-sein nicht um romantische Bestätigung, sondern um einen „reason to get out of the house.“

Später auf dem Album gibt es in Beat & Melodie so etwas wie eine inoffizielle Fortsetzung des Songs Add Up My Love. Auch hier wird ein Klischee aus traurigen Lovesongs umgedreht: statt unter der Frage zu leiden, ob sie selbst genug ist, werden die Selbstzweifel sarkastisch und offensiv verpackt: „If I could wait for a time, To be mad about it, mad about it, I’d choose a day when you’re on your way, And I can say it all to your face, say it to your face.”

Natürlich kommen wir auf Charm nie zu diesem Moment, in dem die echte Claire Cotrill jemandem etwas ins Gesicht sagt. Zu nuanciert, zurückhaltend, augenzwinkernd, zu charmant bleibt es. Damit bleibt die Sängerin ihrer schüchternen Persona auf eine Art treu. Auf eine andere Art ist dieses dritte Album aber ein Schritt aus ihrer bisher aufgebauten Nische. Ewig weit entfernt sind diese Songs vom Bedroom Pop – und bei jedem Hören auch ein wenig weiter weg vom Antonoff-Soft-Rock auf Sling.

Die 70er, der Rückzug, die Zärte, das bleiben die Metiers von Clairo. Doch in diesem Metier liegen wunderbare Tiefen und ungeahnte Höhen.

Clairo – Charm
VÖ: 12. Juli 2024, Virgin
www.clairo.com
www.facebook.com/clairecottrill2

YouTube video

Phillip Kaeding

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