Nippon Connection 2024, 28. Mai, Festivaleröffnung. Donnernde Taiko Trommeln, viele emotionale Reden, die das diesjährige Motto „Crossing Borders“ und ein stückweit Demokratie und Freiheit im Allgemeinen beschworen, um dann wieder auf den Kern des Festivals, japanische Filme, einzugehen. Dann ein Versprechen von Filmkurator und Filmprogrammgestalter Florian Höhr: Dieses Jahr wird es beim Eröffnungsfilm weniger niederschmetternd als beim letztjährigen Plan 75. Das wurde es dann auch, ohne jedoch die großen Emotionen zu missen. Nicht nur Eröffnungsfilm 18×2-Beyond Youthful Days lieferte dabei eben diese ab, sondern auch das restliche Festival. So wurde die 24. Nippon Connection mit 100 aktuellen Kurz- und Langfilmen, rund 60 Konzerten, Workshops, und Vorträgen, vor allem aber 19.000 Besuchern (erneut ein Rekord, noch einmal 500 mehr als letztes Jahr, wir berichteten) wieder ein voller Erfolg.
Aber zunächst zurück zum Eröffnungsfilm 18×2 und den 36 Jahre jungen Taiwanesen Jimmy (Greg Han Hsu), der nach einem Eklat in seiner selbst gegründeten Videospielfirma auf Selbstfindung in Japan geht. Wie der Titel andeutet, gibt es jedoch zwei Zeitebenen. In der anderen verfolgen wir den 18-jährigen Jimmy, der noch relativ unbedarft in den Tag hinein lebt, bis die junge Japanerin Ami (Kaya Kiyohara) den Karaoke-Laden, in dem er arbeitet, und somit sein Leben betritt. Schnell verliebt er, und machen wir uns nichts vor, auch das ganze Publikum sich in die unglaublich charmante, junge Dame bzw. die umwerfende Performance von Kaya Kiyohara. So erleben wir durch Jimmy eine Liebeserklärung an die Jugend und die erste große Liebe auf der einen und das Reisen, Selbstfindung aber auch Verluste auf der anderen Seite. Denn wenig überraschend ist der 36-jährige nicht nur auf der Suche nach sich, sondern auch nach Ami. In vielleicht etwas zu langen gut zwei Stunden treffen wir auf realistisch bis kitschig geschriebene aber immer mehrdimensionale Charaktere und dürfen sowohl die Melancholie des Vergangenen als auch die Wiederentdeckung der Freude am Jetzt erleben. Trotz japanischer Länge und Kitsch, absolut empfehlenswert, nicht nur für Freunde des japanischen und asiatischen Kinos.
Sehr japanisch wurde es hingegen dann in unserem Festival Highlight Takano Tofu, wobei auch hier durchaus Grenzen überschritten wurden. Im Original spielen der Film und besonders der Titel mit ihrer Mehrdeutigkeit. Der Frühling ist ein durchgehender und verbindender Dreh- und Angelpunkt. Wird zum einem auf die Jahreszeit, in der die Geschichte ihren Anfang und ihr Ende nimmt, Bezug genommen, zum anderen auf die weibliche Hauptfigur namens Haru, im Japanischen „Frühling“. Und auf einer dritten Ebene auf den „zweiten Frühling“, den beide Hauptfiguren erleben. Takano Tofu ist eine herzerwärmende Geschichte über den bittersüßen Wandel von Traditionen, starke Familienbande und das Leben und die Freude an eben diesem. Tatsuo Takano (Tatsuya Fuji) stellt seit Jahrzehnten voller Hingabe und mit viel Feingefühl und Disziplin in seinem kleinen Laden Tofu her. Seine Tochter Haru (Kumiko Aso) unterstützt ihn, seitdem ihr Mann sich von ihr getrennt hat und sie somit aus Tokyo nach Hiroshima zurückgekehrt ist. Beide gehen scheinbar zufrieden ihrem Leben und ihrer Berufung nach. Bis der mittlerweile an die 80-jährige Tatsuo erfährt, dass er sich alsbald einer Operation unterziehen sollte, um Gefahr eines Aneurysmas zu umgehen. Dies lässt den griesgrämigen, aber herzensguten Herrn Takano an die Zukunft seiner ledigen Tochter denken und so beschließt er mit seinen vier besten Freunden, einen potenziellen Ehegatten für Haru zu finden. Der Film lebt von seinen Darstellern, die scheinbar allesamt eine Art von „zweiten Frühling“ in ihrer Schaffensphase erleben. Allen voran Tatsuya Fuji, der sich in den 1970er im japanischen Genrekino einen großen Namen machte und nun zeigen kann, dass er nicht nur zum „alten Eisen“ gehört. Eine weitere Darstellerin ist Hiroshima, deren tragische Geschichte, die unzählige Leben betroffen hat, hier bedacht und respektvoll eingebaut wird. Takano Tofu ist eine Slice of life-Geschichte, die vielleicht wie ein Slice Tofu angerichtet wird, aber umso mehr nachhallt, je mehr man darüber erfährt und damit überrascht, wie köstlich das Leben und dieser Film doch sein können.
Wo Takano Tofu eigentlich jedem wärmstens ans Herz gelegt werden kann, ist Hijacked Youth – Dare To Stop Us 2 schon etwas spezieller. Wir sollten zwar alle dringend mehr Filme des Regisseurs Kaji Wakamatsu schauen, allerdings sind diese in Deutschland kaum zu bekommen und daher auch abseits des Mainstreams eher unbekannt. Das macht Dare to Stop 2, in dem es um den Ausnahme-Regisseur geht, zwar umso wichtiger für den deutschen Markt, aber eben auch schwerer zugänglich. Wobei es in Hijacked Youth – Dare To Stop Us 2 gar nicht mehr so sehr um Wakamatsu selber geht, sondern in einem extremen Metatwist um seinen Schützling Junichi Inoue, welcher das Drehbuch zu Dare to Stop Us 1 schrieb und nun für Teil 2 auch die Regie übernommen hat. Dennoch dreht sich alles um Wakamatsu und sein Umfeld. Wie so oft sind Geschichten über Legenden immer dann besonders ergreifend, wenn sie selber nicht Protagonist sind. Und so wird hier Wakamatsu, dem japanischen Indie-Kino im Allgemeinen und seinem Kino, dem Cinema Skhole in Nagoya im Besonderen, ein einfühlsames und sehr unterhaltsames Denkmal gesetzt. Daneben müssen die Geschichten um den Theaterleiter und die Kartenabreißerin, welche ebenfalls Regieambitionen hat, leider etwas zu sehr zurückstecken. Es werden zu viele Plots aufgemacht und nicht alle zu Ende erzählt. Obgleich es dann ein gestaffeltes Ende à la Return of the King gibt, fühlt es sich eher wie ein Two Towers also der Mittelteil einer Trilogie an. Ähnlich wie bei diesem ist das Ende des Films dennoch gleichzeitig das emotionale Highlight und macht richtig Bock auf einen hoffentlich noch anstehenden dritten Teil. Wer Lust auf ein Stückchen Filmgeschichte und ein großes Stück Nostalgie hat, sollte reinschauen. Und vielleicht kommen dann auch irgendwann die Wakamatsu Filme nach Deutschland.
Wer eben diesem Retrocharme folgen wollte und etwas mehr über die Geschichte, besonders des abseitigeren japanischen Films erfahren will, der war wie jedes Jahr beim „Heimkinoabend“ gut aufgehoben. Bei bester Stimmung führten Marcus Stiglegger und Kai Naumann durch Female Prisoner #701: Scorpion, den einzigen Film auf dem Festival, der nicht von Filmkurator Florian Höhr mit ausgewählt werden musste, denn die Hoheit über den Heimkinoabend haben die beiden Filmkritiker / Filmwissenschaftler. Florian Höhr betonte in seiner Ansprache jedoch mit der Auswahl sehr zufrieden zu sein und das waren wir auch. Scorpion sagt euch nix? Nun, vor Kill Bill war Lady Snowblood und vor Lady Snowblood war Female Prisoner #701: Scorpion von 1972. Scorpion ist augenscheinlich ein Female Prison Exploitationfilm, aber so nebenbei eben auch ein Revenge Thriller, mit wegweisenden organischen Szenenwechseln, die sich anfühlen wie eine Theaterbühne und selbst Wes Anderson neidisch machen würden. Dann gibt es Kameraperspektiven und Kamerafahrten, wie die Kamera unter dem Glasboden à la dem eingangs erwähnten Kill Bill, Perspektiven und Übergänge, die ohne CGI undenkbar erscheinen und dennoch komplett ohne Computer und dennoch unglaublich flüssig und organisch umgesetzt sind. Eine psychedelische Explosion der Kreativität, die für einzelnen Szenen von Exploitation zu Giallo oder J-Horror und zurück wechselt. Obendrauf ist es dann auch noch mal ein bisschen sexy und basiert auf einem Manga. Wer dachte Aquaman wäre vor ein paar Jahren am meisten Film in einem Film gewesen und vor allem wem das Gefallen hat, der sollte sich Scorpion unbedingt ansehen, ebenso natürlich alle Kill Bill und Tarantino-Fans oder Anhänger eines der vielen hier erwähnten Genres.
Einen weiteren Retrofilm möchten wir auch ans Herz legen, denn es lief mit Psychic Vision Jangara, der vielleicht erste Found Footage-Film überhaup. Nicht nur das, gleichzeitig markiert der Film den Anfang der modernen J-Horrorwelle und fungiert als Zeitkapsel der J-POP bzw. Idol-Welt und Technologie der 90er. Analoge Medien treffen auf die digitalen und dazwischen eine junges Idol, das ihr Image wechseln will und ein Studio, das bei eben diesem Wechsel auf einen mysteriösen Song aus der Vergangenheit zurückgreift. Ein Song dessen Herkunft zusehends alle Beteiligten ins Verderben und den Horrorfilm in die Moderne stürzt. Für manche, wegen dem geringen Budget sicher nur noch eine Fußnote der Horrorfilmhistorie, für andere eine verloren geglaubte Perle des Horrors, die gerüchteweises bald vom Regisseur Teruyoshi Ishii selbst in die Moderne und auf Spielfilmlänge gehoben wird. Dann sicher mit diesem Film als Extra auf der Blu-Ray.
Aber auch abseits unserer Highlights gab es viel zu entdecken. In Let’s Go Karaoke führt Regisseur Nobuhiro Yamashita, zusammen was wohl schon immer zusammengehört: Karaoke und Yakuza. Was? Naja, beide gehören zu den wohl bekanntesten und vielleicht auch beliebtesten Kulturgütern Japans und wurden dementsprechend filmisch oft in Szene gesetzt. Und das nicht nur von japanischen Filmemachern. Nobuhiro Yamashita hat sich nun zum Ziel gesetzt, diese beiden, inspiriert durch einen Manga, filmisch zu verbinden und bettet alles in eine kleine, feine Coming-of-Age-Geschichte um den jungen Satomi Oka (Jun Saitô), der aufgrund seines bevorstehenden Stimmbruchs seine Position im Schulchor und somit seine Identität zu verlieren scheint und gleichzeitig als Gesangslehrer eines Yakuza Einblick in eine neue Welt gewinnt. Das Ergebnis funktioniert wenig überraschend am besten, wenn man den Yakuza Teil nicht zu ernst nimmt und mit dem etwas quatschigen japanischem Humor schnell warm wird. Der Kinosaal bebte jedenfalls vor Lachen.
Eher vor Tränen bebte er dann bei Totto-Chan: The Little Girl At The Window. Der Anime um die kleine Totto-Chan spielt in den 40er Jahren in Tokyo und auch wenn alles sehr herzlich und unbekümmert anfängt, kann eine Geschichte in Tokyo in der Zeit des zweiten Weltkrieges wohl kaum ohne Drama und Elend auskommen. Zunächst aber ist der Film eine herzerwärmende Geschichte mit Fokus auf Tottos Grundschule für Kinder mit Behinderungen aller Art. Sowohl diesen Aspekt als auch den nahenden Krieg erzählt der Film unglaublich naturalistisch, einfühlsam und ruhig. Als Bonus ist das ganze noch in einem herrlichen Retrostyle gehalten und insgesamt durchaus kindgerecht. Eltern sollten sicher vorher reinschauen, aber Totto-chan ist ein Familienfilm im besten Sinne, der sehr gut unterhält und sich schwierigen Themen nicht verschließt.
Zum Abschluss seinen noch zwei Filme von den unterschiedlichen Endes des budgetären Spektrums erwähnt. Zunächst Alien‘s Daydream, das ultra low budget-Regiedebüt des jungen Yoshiki Matsumoto. Hauptfigur Uto ist ein ambitionierter Reporter, der bei einem unambitionierten Tabloid-Magazin angestellt ist. So überrascht es nicht, dass er wenig Begeisterung aufbringen kann, als er ins japanische Hinterland geschickt wird, um Ufo-Sichtungen zu untersuchen. Was jedoch überrascht, ist, was er dabei ans Tageslicht zerrt und was Regisseur Yoshiki Matsumoto in seinem Debütfilm hier für einen psychedelischen, tiefsinnigen Einblick in das Menschsein abgeliefert hat. Gedreht in der realen Ufostadt Japans, mit einem Mikrobudget liefert der Film einen spannenden Krimi um Ufosekten, Ufo-Sichtungen, vor allem aber alles, was uns Erdlinge so ausmacht. Am anderen Ende des Spektrums Fly Me To The Saitama 2 -FROM BIWA LAKE WITH LOVE-. Der konsequent noch einmal das Gleiche macht wie Teil 1, nur leichter international verdaulich. Wobei der internationale Appeal sich primär auf Japanophile beschränkt. Rei (gespielt vom alternden, japanischen Visual K / Rockstar Gackt) will gemeinsam mit seiner Rebellenbande ihre Heimat Saitama an die Spitze der beliebtesten japanischen Städte bringen, indem sie ein künstliches Meer mit Strand in Saitama hochziehen. Diese Prämisse ist dabei das bodenständigste am Film. Auf der ersten Ebenen wird nämlich diese historisch wirkende Geschichte erzählt, auf der anderen hört eine Familie auf dem Weg zum über die Zukunft des gegenwärtigen Saitamas entscheidenden Tauziehwettkampf eben diese im Radio. Wobei die Grenzen der Geschichten verschwimmen und der Plot um Rei inszeniert ist wie das pervertierte Kind von der Anime / Mange Serie Lady Oscar und der Ganbare Geomon Videospielserie von Konami. Während Tokyo im zweiten Teil ein wenig in den Hintergrund tritt, strebt nun Osaka mit Takoyakidrogen nach der Weltherrschaft und wird dabei mehr oder weniger von dem aristokratischen Adel Kyotos unterstützt, Nara hingegen wird auf eine riesige Rudel von Rehen reduziert und ein weiterer zentraler Plotpunkt ist der Osakadialekt, der wie eine Seuche um sich zu greifen scheint. Im Kern geht es zwar immer noch um diese Städte aus der zweiten Reihe à la Hamburg gegen Berlin, Ludwigshafen gegen Mannheim, Offenbach gegen Frankfurt nur eben in fantastischer Alternate History, an der Japanbegeisterte ihre helle Freude haben werden. Nicht ganz so innovativ wie Teil 1, aber dafür verständlicher und nicht weniger verrückt.
Und genau deshalb sollte man eben immer wieder zur Nippon Connection gehen, denn jedes Mal wird man ein wenig tiefer in den japanischen Film und die Kultur eintauchen und etwas mehr verstehen. Nach nun über 24 Jahren läuft kaum ein Film, dessen Regisseur:in nicht schon einmal etwas vor Ort präsentiert hatte und in den meisten Fällen auch schon mal da war. Und überhaupt gibt es immer mehr Gäste und Essen und Veranstaltungen und Filme und ihr ahnt es, wir können es kaum abwarten zur 25. Nippon Connection vom 27. Mai bis 1. Juni 2025 zu gehen. Zum großen Jubiläum sicher noch einmal etwas besonderer und größer, aber auch wenn nicht, auf jeden Fall einen Besuch wert. Wegen dem hohen Besucherandrang und vielen ausgebuchten Vorstellungen wäre unsere dringende Empfehlung vorher schon Karten zu kaufen, zumindest für die Filme, die man unbedingt sehen möchte und das sind eigentlich immer eine ganze Menge.