NICK CAVE & THE BAD SEEDS – Wild God


Foto-© Megan Cullen

And all across the world, they shout bad words, they shout angry words
All across the world, they shout out their angry words
About the end of love, yet the stars stand above the earth

Bright, triumphant metaphors of love
Bright, triumphant metaphors of love
Blind us all who care to stand and look beyond
That care to stand and look beyond above

And I jumped up like a rabbit and fell down to my knees
I jumped up like a rabbit and fell down to my knees
I called all around me, said, “Have mercy on me, please”
“Have mercy on me, please”
“Have mercy on me, please”
“Have mercy on me, please”

For joy, for joy, for joy
For joy, for joy, for joy
Jumping for joy
For joy, for joy, for joy
For joy, for joy, for joy
Oh, for joy
Oh, have mercy on me, please
Joy, joy, joy

(Nick Cave & The Bad Seeds – Joy)

“Darling, du hast jetzt ein neues Album gemacht, das sich bitte gut verkaufen soll. Also, sprich über das Album, über Rock ‘n’ Roll – nicht über Religion.” Das sagte keine Geringere als Nick Caves Ehefrau Susie Bick, auf die der Sänger in den allermeisten Fällen liebevoll hört, vor einem aktuellen Musikexpress-Interview. In diesem Fall jedoch stieß Bick auf taube Ohren.

Um “nicht über Religion” sprechen zu müssen, hätte Cave sein neues Album wohl kaum Wild God nennen und es als moderne Gospel-Platte anlegen dürfen, in der fast jeder Song irgendeine “Oh Lord!”-Anrufung enthält. Letztendlich ist das neue Meisterstück von Nick Cave & The Bad Seeds sogar die bisher wohl intensivste Auseinandersetzung des in England lebenden Australiers mit Gott und der Welt.

“Dieser wilde Gott befindet sich in einem Zustand der Not”, sagt Cave in dem ME-Interview. “Er hat etwas verloren, das er unbedingt zurückhaben will. Er sucht nach jemandem, der noch an ihn glaubt.“ Mit andauernder Sinnsuche kann dieser fabelhafte Singer-Songwriter selbst definitiv viel anfangen, und das schon lange. Ob als Avantgarde-Punk mit The Birthday Party während der wilden 80er in West-Berlin, als unnahbarer Indie-Rocker und Mörderballaden-Crooner mit den Bad Seeds in den 90ern, als unangepasster Liebling der Feuilletons mit seinen Büchern, Band-, Solo-, Projekt- und Soundtrack-Arbeiten seit den Nuller-Jahren, als zugewandter Menschenfischer in ekstatischen Konzerten: Nick Cave war stets ein hochkomplexer Künstler mit enormem Tiefgang und Forscherdrang, unkompliziert oder gar leichtgewichtig ist er nicht zu haben.

Nach dem Unfalltod seines Sohnes Arthur verarbeitete Cave die unermessliche Trauer in zwei Alben mit reduzierten Bad Seeds (das großartig elegische Skeleton Tree von 2016, das leider arg kitschnahe Ghosteen von 2019) und begeisterte 2021 mit der Duo-Platte Carnage an der Seite seines musikalischen Langzeitgefährten und Freundes Warren Ellis. Nun also Wild God – eine Platte, zu der Nick Cave ungewöhnlich viele ausführliche Pressegespräche führte, weil sie ihm so wichtig ist.

Bei diesen Gelegenheiten ging es ganz viel um die ausgefeilten, vor Bibel- und Literatur-Einflüssen nur so strotzenden Texte – aber auch um die zehn wunderbaren neuen Cave/Ellis-Kompositionen. Besonders auffällig: dass dies endlich mal wieder ein echtes Band-Album ist. “Was ich wollte, war, die Bad Seeds zu beschäftigen”, sagt Cave. “Ich wollte, dass es der Band gut geht”, denn ihre Position sei zuletzt immer schwächer geworden, beispielhaft hörbar in der Position von Schlagzeuger Thomas Wydler.

Die Arrangements sind nun deutlich muskulöser geraten, Chor- und Orchester-Parts geben den Liedern ein feierliches Gepränge, und die berühmten Bariton-Vocals des bald 67-Jährigen sind so bezwingend wie selten zuvor. Der Opener Song Of The Lake bezaubert sogleich dank einer zum Niederknien schönen, opulenten Melodie, die Nick Cave mit seiner typischen Art von sonorem Sprechgesang krönt: “Oh Lord, never mind, never mind”. Das Titelstück Wild God bringt zu markanten Piano-Klängen die weiter oben bereits erwähnte, ratlos suchende Gottheit ins Spiel, zitiert ganz nebenbei Jubilee Street, einen der besten Cave-Songs überhaupt – und explodiert schließlich in einem gewaltigen Gospel-Finale, das jedes Kirchendach abheben lassen würde.

Weitere Album-Highlights sind die vorab veröffentlichten Tracks Frogs (mit prächtigen Waldhörnern) und Long Dark Night. Im gut sechsminütigen Joy gibt Nick Cave erneut den Spoken-Word-Moritatenerzähler – ausgehend von einem Blues-Motiv (“I woke up this morning with the blues all around my head, I felt like someone in my family was dead”) macht der Sänger klar, dass nach all der Trauer und Schwermut irgendwann auch mal wieder pure Freude erlaubt ist. So ergreifend wie befreiend.

Final Rescue Attempt, Cinnamon Horses und Conversion sind anschließend musikalisch recht zugänglich, aber textlich kaum weniger gedankenschwer. Der poppigste Song kommt kurz vor Schluss, und man staunt: Ja, bei Nick Cave & The Bad Seeds klingt sogar Autotune gut. Inhaltlich ist O Wow O Wow (How Wonderful She Is) freilich ein liebevoller Nachruf – auf die 2021 gestorbene Ex-Freundin und Birthday-Party-Kollegin Anita Lane, deren Tonband-Stimme in dem Lied auch zu hören ist.

Mit dem nur rund zweiminütigen As The Waters Cover The Sea geht ein Album zu Ende, das trotz all der grandiosen Vorgänger wie ein neues Monument in der reichhaltigen Diskographie von Nick Cave steht. “Meine Frau Susie sitzt am Fenster, ist in ihrem Stuhl eingeschlafen. Ist das nicht der größte Moment, über den man schreiben kann?”, fragt der Singer-Songwriter im Musikexpress-Interview. “Es sind die kleinem Handlungen, die das gesamte Universum enthalten. Im Kleinsten liegt das Allergrößte.” Da ist er wieder, der Philosoph und Sinnsucher des Rock ‘n’ Roll.

Fazit: Wild God ist ein weiterer Geniestreich von Nick Cave & The Bad Seeds – das erste große “Alterswerk” dieser Schicksalsgemeinschaft toller Musiker als Ü60-Band, und was für eines.

Nick Cave & The Bad Seeds – Wild God
VÖ: 30. September 2024, Play It Again Sam
www.nickcave.com
www.facebook.com/nickcaveofficial

Nick Cave & The Bad Seeds Live (Support: Dry Cleaning)
24.09.24 Oberhausen, Rudolf-Weber-Arena
29.09.24 Berlin, Uber Arena
30.09.24 Berlin, Uber Arena (Zusatztermin)
08.10.24 Hamburg, Barclays Arena
18.10.24 München, Olympiahalle

YouTube video

Werner Herpell

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