Foto-© Augusta Quirk // Universal Pictures Germany
You don’t have cash, let’s go to the ATM machine.
(Annie – Anora)
Es ist die klassische Romanze: Eine junge Stripperin / Prostituierte (Mikey Madison, bekannt aus Scream 5) verliebt sich in einen noch jüngeren, geradezu kindlichen, ultrareichen, russischen Jüngling (Mark Eidelshtein), dessen Reichtum und Familienleben ein Mysterium sind. Die beiden feiern, vögeln und heiraten wenig später in Las Vegas, um Ivans Eltern, die in Russland leben, eins auszuwischen und leben danach glücklich bis ans Ende ihrer Tage.
Glaubt ihr nicht? Genau damit spielt der in Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichnete Film Anora. Über lange Strecken, des zugegeben mit 139 Minuten wirklich langen Film, wartet ihr darauf, dass etwas schief geht, dass entweder Ivan sein „wahres Gesicht“ zeigt oder sich Komplikationen aus den garantiert mafiösen Familienstrukturen des jungen Mannes ergeben. Entweder das oder am Ende steht „based on a true story“, die einzig glaubhafte Erklärung für eine so unglaubliche Geschichte. Mit letzterem endet der Film nicht. Stattdessen endet der Film mit der Einblendung Anora, dem echten Namen von Stripperin Ani, dem Titel des Films und der Botschaft, dass man sich bitte ihren richtigen Namen merken soll. Denn darum geht es in dem Film, darum, dass Anora zu sich selbst findet, ein Stück weit lernt, wer sie ist und was ihr im Leben wichtig ist. Eine Reise, die weder für sie noch für die Zuschauer eine leichte ist. Wobei das nicht ganz stimmt. Auch wenn die Thematik und das Gezeigte an sich sehr ernst sind, werden viele Szenen so überzogen präsentiert, sind viele Szenarien und Figuren so absurd und weit weg von unserer „Normalität“, dass ihr viel lachen werdet. Wenn zum Beispiel die „Bodyguards“ / „Babysitter“ / „Aufpasser“ von Ivan den völlig überdrehten Jungen zur Vernunft bringen wollen und ihn dabei gleichzeig mit Samthandschuhen anfassen müssen und mit gereckter Faust drohen. Überhaupt sind es diese Aufpasser, welche die heimlichen Stars des Films sind. Allen voran der treudoofe Igor (Yura Borisov, vielleicht dem einen oder anderen bekannt aus dem russische Panzeraction Kracher T-34), der als harter Schläger auftritt, aber euch Szene um Szene mehr ans Herz wachsen wird, mit seiner 100% ehrlich und offenen Art.
Zurück aber zu dem Teil, der nicht für jeden so leicht verdaulich ist: Sex und Drogenkonsum werden in all seiner Bandbreite auf dem Bildschirm zelebriert und das gerne auch zusammen. Gewalt wird zwar nicht viel gezeigt, aber das, was passiert, ist eigentlich immer demütigend für Frauen, vornehmlich Annie. Das wird teilweise etwas zu leicht genommen, wobei ich Regisseur Sean Baker unterstelle, hier bewusst Szenarien zu kreieren, in denen dem Zuschauer irgendwann das Lachen im Halse steckenbleiben muss. Baker schockierte uns bereits unter andrem mit Red Rocket und Tangerine. Der Mann schafft es wie kein Zweiter, Geschichten aus und um die Sexindustrie zu erzählen. So wird auch hier wieder ohne den moralischen Zeigefinger auf Missstände hingewiesen, Einblicke gewährt und dabei gut unterhalten. Er spielt zwar mit Klischees, diese werden jedoch im Laufe der Geschichte meist auf den Kopf gestellt oder zumindest gebrochen. Ebenso wie die Geschichte selbst, die eben genau nicht so verläuft, wie man es erwarten würde.
Dass der Film so gut funktioniert, hängt dabei zu weiten Teilen auch an der hervorragenden Performance von Mikey Madison. Sie spielt Annie glaubwürdig stoisch, unbeugsam, selbstsicher, naiv und wenn es drauf ankommt, überraschend verletzlich. Ebenso Teil ihrer Performance ist – und auch das muss gewürdigt werden – dass sie Ani wahnsinnig sexy und verführerisch rüberbringt. Ihr gegenüber dreht Mark Eidelshtein herrlich los als Ivan und sammelt unterwegs sogar ebenfalls ein paar Sympathiepunkte, wenn auch längst nicht so viele wie Yura Borisov. Selten wurde man so kontrovers gut unterhalten, dass dabei sogar die 139 Minuten wie im Flug vergehen.
Anora (USA 2024)
Regie: Sean Baker
Darsteller: Mikey Madison, Karren Karagulian, Vache Tovmasyan, Mark Eidelshtein, Yura Borisov
Kinostart: 31. Oktober 2024, Universal Pictures Geramyn