WILL STRATTON – Points Of Origin


Foto-© Anna Victoria

I miss all my friends at the temple bar
the ones who walked just half a block
and the ones who traveled far

A family like a lost and found
blessed by niles canyon
and the water from the ground

Charlie was from tracy
and he made all his money on pool
hiding out from the children of god,
he’d run out the clock on school

But one summer he just disappeared,
and i heard that he’d driven up north
sometimes you never see someone again
but you know just what they’re looking for

(Will Stratton – Temple Bar)

„Will Stratton, das ist doch dieser schüchterne Nick-Drake-Typ…“, hörte ich kürzlich, als ich von einem der besten US-Songwriter unserer Zeit und seiner neuen Platte zu schwärmen anhob. „Ja, stimmt, aber …“ – da gibt es doch so viel mehr zu erzählen. Zum Beispiel von einem Musiker, der nun mit dem bereits achten Album einer qualitativ immer schön bergauf verlaufenen Indie-Folk-Karriere sein Meisterwerk vorlegt.

Mit Vergleichen ist es für Künstler ja immer so eine Sache. Sie können nerven, wenn dahinter ein Verdacht epigonaler Abkupferei steht. Oder sie können ehrenvoll sein, wenn die Referenznamen besondere Strahlkraft haben. Im Fall Stratton tritt man dem gebürtigen Kalifornier sicher nicht zu nahe, wenn man ihn respektvoll zwischen Nick Drake und Sufjan Stevens verortet. Also an der Schnittstelle von jazz-informiertem Seventies-Brit-Folk und dem amerikanischen Songwriter-Pop der 2000er- und 2010-er, den man von Stevens-Alben wie Illinois (2005) oder Carrie & Lowell (2015) kennt und liebt.

Auch Strattons aktuelle Platte Points Of Origin schafft es wieder, zwischen diesen beiden Polen etwas ganz Besonderes entstehen zu lassen. Die friedliche Atmosphäre englischer Landschaften taucht etwa im Drake-esken Firewatcher, in den Zupfgitarren von Higher And Drier oder im sanften Closer Slab City auf, auch Will Strattons melancholische Vocals erinnern hier an das tragische Brit-Folk-Genie. Der mit delikatester Zartheit zu Klavier und Pedal-Steel performte Opener I Found You, der wunderbar ausschweifend erzählende Country-Pop von Temple Bar oder der hochkomplexe Streicher/Bläser-Track Bardo Or Heaven? lassen indes an die raffinierten Songgespinste des nur wenige Jahre älteren US-Kollegen Stevens denken.

In den Texten von Points Of Origin geht Will Stratton dahin, wo’s weh tut. Mit ihrer Storyteller-Intensität sind diese Lyrics denen des großen Songpoeten Willy Vlautin von The Delines (unser Interview gibt’s hier) durchaus ebenbürtig. Wieder so ein Vergleich, und wieder ein ehrenvoller. „Das kümmerliche, schöne, sonnengebleichte Leben von Truckern, Surfern, Ausreißern, Betrunkenen, Dieben, CIA-Agenten, Förstern, Brandstiftern, Anwälten und Malern“ schildert Stratton in den zehn neuen Liedern ebenso wie die Auswirkungen des Klimawandels, heißt es vom geschmackssicheren Label Bella Union. Schwerer, oft trauriger Stoff, aber tatsächlich jeder einzelne Song lohnt das konzentrierte Mitlesen.

Weil die Arrangements stets zwischen reduziertem Gitarren-Folk und Westcoast-Pop-Opulenz pendeln, ist Points Of Origin auch produktionstechnisch ein ausgesprochen abwechslungsreiches, ambitioniertes Album. Dass ein Musiker nach fast 20 Karrierejahren den Gipfel seiner Kunst erreicht, ist keine Selbstverständlichkeit. Will Stratton hat das geschafft, und dafür gebührt ihm höchster Respekt – jenseits aller gut gemeinten, vielleicht aber auch lästigen Referenzen. Ein Album, in dem man sich verlieren kann und dessen subtile Wirkung noch lange anhalten wird.

Will Stratton – Points Of Origin
VÖ: 07. März 2025, Bella Union
www.willstratton.com
www.facebook.com/willstrattonmusic

YouTube Video

Werner Herpell

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