BEIRUT – A Study Of Losses

Where did you go? Where have you been?
How could this thing make any sense?
Where did you go? Where have you been?
How could this thing make any sense?

Life will find a way
It cannot be something you hide away
Lies will find a way
There’s gotta be something you hide away
My hand’s aflame
It’s gotta be something you hide away

(Beirut – Guericke’s Unicorn)

Schon der instrumentale Opener des neuen Beirut-Albums lässt ahnen, dass es wieder mal sehr melancholisch zugeht im Klang-Kosmos von Zach Condon, dem Mastermind hinter diesem inzwischen überraschend langlebigen Indie-Neo-Folkpop-Projekt. Disappearences And Losses stellt gleich das aktuelle Thema des hochintellektuellen, zartbesaiteten Musikers vor: Er orientiert sich in gleich 18 Tracks am 2018 erschienenen Buch Verzeichnis einiger Verluste der deutschen Autorin Judith Schalansky.

Ein elektronisch-akustisches Konzeptalbum, ein sehr langes noch dazu, mit Zutaten aus Klassik, Choralmusik, Walzer und Tango – da könnte man auf eine gewisse Streberhaftigkeit und Maßlosigkeit des zeitweise in Berlin lebenden US-Singer-Songwriters und Multiinstrumentalisten schließen. Doch die pure, berührende Schönheit seiner Melodien und Lyrics macht solche Einwände schnell obsolet. A Study Of Losses – so der Titel des Werks, das man durchaus als Opus magnum von Beirut bezeichnen darf – ist der komplette Gegenentwurf zur Spotify-Ära: Eine Platte, die ohne „Hits“ mit catchy Intros daherkommt und tatsächlich als Ganzes genossen werden will, über die gesamte üppige Laufzeit von 58 Minuten und 2 Sekunden.

Kurz zurück zu Judith Schalansky, der 44 Jahre alten Schriftstellerin aus der alten Ostsee-Stadt Greifswald. Deren Buch stellt der Suhrkamp-Verlag so vor: „Die Weltgeschichte ist voller Dinge, die verloren sind – mutwillig zerstört oder im Lauf der Zeit abhandengekommen. In ihrem neuen Buch widmet sich Judith Schalansky dem, was das Verlorene hinterlässt: verhallte Echos und verwischte Spuren, Gerüchte und Legenden, Auslassungszeichen und Phantomschmerzen.“ So entsehe „ein naturgemäß unvollständiges Verzeichnis des Verschollenen und Verschwundenen“, das Buch handele „gleichermaßen vom Suchen wie vom Finden, vom Verlieren wie vom Gewinnen und zeigt, dass der Unterschied zwischen An- und Abwesenheit womöglich marginal ist, solange es die Erinnerung gibt – und eine Literatur, die erfahrbar macht, wie nah Bewahren und Zerstören, Verlust und Schöpfung beieinanderliegen“.

Ja, das klingt doch nach einem Stoff, der zum sensiblen Grübler und musikalischen Weltenbummler Zach Condon passt. (In Auftrag gegeben wurde diese Beirut-Platte mit elf Songs und sieben Instrumentals freilich interessanterweise vom schwedischen Zirkus Kompani Giraff für eine akrobatische Bühnenshow.) Auch in Condons A Study Of Losses geht es nun um das Verschwinden, die Vergänglichkeit und den Versuch der Bewahrung, um ausgestorbene Tierarten (Caspian Tiger), naturkundliche Legenden (Guericke’s Unicorn), architektonische Preziosen (Villa Sacchetti) und literarische Schätze (Sappho’s Poems), den Prozess des Alterns (Garbo’s Face) – und um andere Dinge, die man verlieren und deren Abwesenheit man dann betrauern kann.

Wie schon ganz zu Beginn seiner Laufbahn vor gut 20 Jahren orientiert sich Condon an der ausufernden Opulenz eines seiner Lieblingsalben, den 69 Love Songs von The Magnetic Fields. Mit Ukulele, Akkordeon, Klavier, Pump-Orgel, Trompete, Standbass und Mini-Orchester ist das alles sehr einfallsreich produziert, auch wenn über die Spieldauer von fast einer Stunde der Spannungsbogen manchmal kurz durchhängt. Zumal den schwermütigen Streichersätzen und der klagenden, hohen Stimme von Zach Condon eine sedierende Wirkung zu eigen sein kann.

Das (neben Ghost Train und Mani’s 7 Books) treibendste Stück Guericke’s Unicorn fällt etwas aus dem Rahmen mit seinem Synth-Pop-Arrangement. Es geht um die angebliche Rekonstruktion eines fossilen Einhorns, das in Wirklichkeit aus den Knochen verschiedener Tiere wie Wollhaarmammut und Narwal geschaffen worden war. „Ich war schon immer von diesen bizarren Kapiteln und seltsamen Randnotizen der Geschichte fasziniert, und ich wollte die unorthodoxe, exzentrische Verrücktheit dieses ‚Einhorns‘ in einem verspielteren Song widerspiegeln, der sich etwas vom Rest des Albums abhebt“, sagt Condon. „Ich denke, dass meine Musik generell diese unzusammenhängende, chaotische Tendenz haben kann, aber da das ganze Album ansonsten eher einheitlich barock inspiriert ist, ist ‚Guericke’s Unicorn‘ wirklich ein Ausreißer auf diesem Album, der seinen Ursprung in einem alten modularen Synthese-Experiment von mir hat.“

A Study Of Losses ist bereits das zweite Beirut-Album innerhalb von zwei Jahren. Nachdem er sich von hartnäckigen Halsproblemen und einem drohenden mentalen Zusammenbruch erholt hat (und auch wieder live auftreten kann), folgt diese prächtige Platte auf das ebenfalls hochgelobte Hadsel (2023), das rund um eine riesige alte Kirchenorgel während eines arktischen Winters in Nordnorwegen entstand. Gut zu wissen, dass sich Zach Condon gesundheitlich so berappelt hat. Dem Eintritt in die mittlere Phase der Karriere des 39-Jährigen kann man mit Vorfreude entgegenblicken.

Beirut – A Study Of Losses
VÖ: 18. April 2025, Pompeii Records
www.beirutband.com
www.facebook.com/beirutmusic

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Werner Herpell

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